Auf der Suche nach der flachen Erde
Es ist gut, dass Flacherdler in die Antarktis reisen. Es ist tragisch, dass das nötig ist. Es ist klar, dass es nichts nützen wird.
Die moderne Flacherde-Bewegung (Stichwort auf Englisch: “Flat Earth”) ist für mich ungemein faszinierend. Dass Menschen in vorwissenschaftlichen Zeiten glaubten, die Erde sei flach, ist nachvollziehbar. Wenn ich aus dem Fenster schaue, habe ich nicht das Gefühl, irgendwie auf einer Kugel zu balancieren. Im Jahr 2024 gibt es aber eigentlich viel Evidenz und klare logische Argumente, die überwältigend dafür sprechen, dass die Erde kugelförmig ist.
Und trotzdem, oder vielleicht gerade darum, glauben heute immer mehr Menschen, die Erde sei doch flach. Es ist alles eine gigantische Globus-Lüge. Seit Jahrzehnten, nein, Jahrhunderten, tischen uns die Mächtigen der Welt den Mega-Schwindel auf, die Erde sei kugelförmig. Alle Regierungen, der gesamte Wissenschaftsapparat und Reihenweise Industrien — Flugzeughersteller, Airlines, Satellitenhersteller, Raumfahrtunternehmen u.a.m. — sind Teil der grössten Verschwörung der Geschichte.
Flacherde-Theorien sind fast perfekte, pure, 100%-ige Irrationalität. Umso interessanter ist, was passiert, wenn Flacherde-Anhänger ganz direkt mit Evidenz konfrontiert werden, die ihre Überzeugungen unmissverständlich widerlegt. Eine Gruppe Flacherdler hat es herausgefunden. In der Antarktis.
Expedition in die Antarktis
Es gibt keine einheitliche Theorie der flachen Erde. Es gibt aber so etwas wie ein zentrales Postulat im Rahmen der Flacherde-Bewegung: Die Antarktis ist nicht ein normaler Kontinent, sondern eine Art Eisring, der den Rand der flachen Erde umkreist.
Aus diesem Postulat ergibt sich eine Hypothese der flachen Erde: Wenn die Antarktis ein Eisring entlang des Randes der flachen Erde ist, ist es unmöglich, dass die Sonne im arktischen Sommer bis zu 24 Stunden scheint und die Nacht im arktischen Winter bis zu 24 Stunden dauert.
Flacherde-Anhänger glauben, dass alle Videoaufnahmen und sonstige Belege für dieses Phänomen gefälscht sind. Nun ist eine Gruppe von ihnen in die Antarktis gereist, um selber zu prüfen, ob die Sonne 24 Stunden scheint oder nicht.
Der amerikanische Pastor Will Duffy hat die Expedition “The Final Experiment” ins Leben gerufen, um ein für alle mal zu prüfen, ob die Erde flach oder kugelförmig ist. Duffy glaubt selber nicht an die flache Erde, hat aber eine Gruppe Flacherde-Anhänger und Flacherde-Kritiker eingeladen, ihn in die Antarktis zu begleiten, um gemeinsam und transparent zu beobachten und zu dokumentieren, was passiert.
Was passiert ist, ist natürlich wenig überraschend: Aktuell ist in der Antarktis Hochsommer und die Sonne scheint am Ort der Expedition 24 Stunden. Ein Teilnehmer der Expedition, Will McKeegan (Flacherde-Kritiker) hat das Phänomen in einem Timelapse-Video festgehalten.
Doch wie reagierten die anwesenden Flacherde-Anhänger?
An der Expedition nahm u.a. der prominente Flacherde-Youtuber Jeran Campanella teil. In einem Livestream aus der Antarktis kommt er zum Schluss: Manchmal irrt man sich im Leben. Die Sonne scheint doch 24 Stunden am Tag. Was er glaubte, war falsch.
In einem weiteren Livestream auf seinem eigenen Youtube-Kanal führt Campanella weiter aus, dass die Beobachtung, die er vor Ort macht, ganz direkt der Theorie der flachen Erde widerspreche: Es sei in diesem Modell der Welt unmöglich, dass die Sonne aktuell stehe, wo sie stehe, und dass gleichzeitig, wie es faktisch der Fall sei, in Australien Tag sei.
Mutig, aber trotzdem tragisch
Campanellas Vorgehen ist doppelt lobenswert. Erstens hatte er den Mut, seine gesamte Weltanschauung in Frage zu stellen, indem er in die Antarktis reist und vor Ort beobachtet und berichtet, was los ist. Zweitens zeigte er genug intellektuelle Demut, um zu akzeptieren, dass die Beobachtung vor Ort seine Ansichten eindeutig widerlegen.
Campanella hat etwas demonstriert, woran ich selber mit Inbrunst glaube: Gute Argumente können sich auch bei sehr tief verankerten Überzeugungen, an denen wir emotional hängen, durchsetzen. So weit, so gut.
Ein Happy End ist die Geschichte trotzdem nicht. Der Umstand, dass es überhaupt soweit gekommen ist — dass eine Gruppe von Menschen von einer Mega-Verschwörung so sehr überzeugt waren, dass sie selber in die Antarktis reisen mussten — ist Zeugnis einer umfassenden epistemischen Krise. Egal, ob flache Erde oder die Existenz von Viren oder menschengemachter Klimawandel: Der Denkmodus, dass nichts wahr ist, was man nicht unmittelbar mit den eigenen Sinnen erfahren kann, ist heute weit verbreitet. Das ist verheerend. Die pauschale Ablehnung von Evidenz und Argumenten, die nicht unmittelbare subjektive Sinneserfahrung sind, stellt einen Rückfall in voraufklärerische Zeiten dar. Wenn ich nur für wahr halte, was sich subjektiv wahr anfühlt, wird der Graben zwischen Realität und Glaube irgendwann so gross, dass er uns alle verschlingt.
Warum es nichts nützen wird: Glaube schlägt Argumente
Aber trotzdem: Dass die Flacherde-Anhänger ihre Weltanschauung in der Antarktis kritisch prüfen, ist definitiv lobenswert. Und es könnte in der breiteren Flacherde-Bewegung potenziell Wellen schlagen, wenn ein prominenter Flacherte-YouTuber wie Campanella ein derart selbstkritisches Experiment durchführt. Ich befürchte aber, dass die Expedition letztlich wenig verändern wird.
Im Buch “When Prophecy Fails” (Wenn Prophezeiung fehlschlägt) von 1956 dokumentieren die Sozialpsychologen Leon Festinger, Henry Riecken und Stanley Schachter die Geschichte einer UFO-Endzeitsekte.
Die Sekte prophezeite das Ende der Welt zu einem bestimmten Datum. Der Weltuntergang, an den die Sektenmitglieder glaubten, ist nicht eingetreten. Das war eine krasse Widerlegung der Lehre der Sekte. Angesichts des eklatanten Widerspruchs zwischen Glaube und Realität wäre zu erwarten gewesen, dass alle Sektenmitglieder von ihrem Glauben abkommen. Aber das ist nicht passiert.
Sektenmitglieder, die schon vorher nicht sehr stark an die Prophezeiung glaubten und eher peripher mitmachten, änderten im Lichte des ausbleibenden Weltuntergangs ihre Meinung. Aber jene Sektenmitglieder, die intensiv glaubten, glaubten es nachher weiter, tendenziell sogar stärker. Sie suchten Gründe, warum die Welt doch nicht untergegangen ist und warum ihre Religion doch wahr ist.
Dasselbe wird auch mit der Flacherde-Bewegung geschehen. Die eingefleischten Anhänger werden nach wie vor an die flache Erde glauben — und sie werden Gründe finden, warum die Antarktis-Expedition ihre Überzeugung nicht widerlegt. Mit diesen neuen Geschichten, die zweifellos spektakulär und emotional packend ausfallen, werden sie potenziell neue Leute von der flachen Erde überzeugen können. Entweder werden weitere wirre Flacherde-Theorien entwickelt, die das Ganze vermeintlich erklären.
Oder die Flacherde-Anhänger, die in der Antarktis waren, werden als Teil der grossen Globus-Verschwörung diskreditiert. Nach dem Motto: Ich war ja nicht selber vor Ort — das Ganze muss ein weiterer grosser Betrug sein. Der Flacherde-Anhänger Campanella antizipiert das bereits in seinen Videos aus der Antarktis: Er werde nun wohl als Agent und Verschwörer gebrandmarkt.
Das beste Mittel gegen schlechte Argumente sind gute Argumente. Gegen paranoides Misstrauen ist aber so gut wie kein Kraut gewachsen. Jede Widerlegung der Verschwörungstheorie wird zu einer Bestätigung uminterpretiert, dass die Lüge noch viel grösser und viel schlimmer ist.
Die Flacherde-Verschwörungstheorie ist tot. Es lebe die Flacherde-Verschwörungstheorie.