Corona-Impfungen: Eine kapitalistische Erfolgsgeschichte?
Die NZZ meint, der Kapitalismus rette uns vor dem Coronavirus. Das ist absurd.
Einer der Gründe, warum ich die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) schätze, ist, dass sie unverblümt für die Interessen des Kapitals einsteht. Die meisten journalistischen Medienhäuser haben einen neoliberalen Drall (sie geben die gesellschaftliche Leitideologie wieder), aber die NZZ geht einen Schritt weiter und flaggt klar aus, was Sache ist.
So auch im Artikel “Der Kapitalismus rettet uns vor dem Coronavirus – wenn die Anreize stimmen“ aus der Feder Peter A. Fischers, veröffentlicht am 5. Februar 2021. In seinem Artikel argumentiert der Autor, dass wir die schnelle Entwicklung der Corona-Impfstoffe dem Kapitalismus zu verdanken haben. “[W]enn das Impfen hilft, ist es der Kapitalismus, der uns aus dieser Pandemie rettet […]”, konstatiert Fischer.
Nun ja, das könnte natürlich sein. Ein genauerer Blick auf die konkreten Argumente des Artikels offenbart aber eine beeindruckend logik- und faktenfreie Gehirnakrobatik — was unfreiwillig offenbart, was für einen Kapitalismus sich die NZZ zu wünschen scheint.
Stichwort “Unternehmerisches Risiko”
Fischer erklärt in seinem NZZ-Artikel, dass ein wesentlicher Grund, warum die Corona-Impfungen so schnell entwickelt werden konnten, das grosse unternehmerisches Risiko der Pharmaunternehmen ist. Pharmafirmen mussten sehr viel Geld in die Entwicklung der Corona-Impfstoffe investieren, und es hätte sein können, dass dabei nichts Brauchbares rauskommt. Dieses Argument klingt nicht unplausibel, denn das ist mehr oder weniger der faustische Pakt, den wir als Gesellschaft mit privaten, profitorientierten Pharmaunternehmen eingehen: Sie dürfen grosse Profite machen, aber wir erwarten im Gegenzug, dass sie auch viel Geld in Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln stecken, und zwar ohne Garantie, dass aus den Investitionen etwas wird. Sie gehen Risiken ein.
Im Artikel heisst es diesbezüglich:
Dafür haben Forscher und Entwickler in zahlreichen Firmen rund um die Welt mit enormem Enthusiasmus und zu einem erheblichen Teil auf eigenes unternehmerisches Risiko gearbeitet.
Mehr noch: Fischer, der Autor des Artikels, mahnt dazu, die Pharmaunternehmen ja nicht zu hart an die Kandare zu nehmen (etwa, indem ihnen die Patente für Corona-Impfungen entzogen werden), weil die Pharmaunternehmen dann gar nicht mehr bereit wären, in Zukunft Milliarden auf eigenes Risiko zu investieren.
Welcher Pharmakonzern wäre in einem Land, das ihn bei Erfolg faktisch enteignet, künftig noch bereit, das unternehmerische Risiko von Milliardeninvestitionen auf sich zu nehmen?
Das klingt soweit recht nachvollziehbar. Pharmaunternehmen sind mit der Entwicklung von Corona-Impfstoffen ein grosses Risiko eingegangen, das sich nun für alle Seiten auszahlt. Der Kapitalismus hat hier also funktioniert.
Wäre da nur nicht ein klitzekleine Ungereimtheit: Die Geschichte von den mutigen Pharmaunternehmen, die grosses unternehmerischen Risiko auf sich nehmen, um der Welt Corona-Impfstoffe zu bescheren, hat recht wenig mit der Realität zu tun. Die Entwicklung der Corona-Impfstoffe wurde in Tat und Wahrheit mit öffentlichem, staatlichem Geld finanziert. Und zwar in doppelter Hinsicht.
Erstens haben Staaten Milliarden von Dollar für Forschung und Entwicklung der Corona-Impfstoffe bereitgestellt. Damit sind nicht vorab abgeschlossene Kaufverträge für die Impfstoffe gemeint, sondern Geld, dass Pharmaunternehmen à fond perdu erhalten haben, um die Impfstoffe zu entwickeln und zu prüfen. Für die Entwicklung von sechs vielversprechenden Impfstoffen haben die involvierten elf Pharmaunternehmen über 12 Milliarden Dollar an öffentlichem Geld erhalten. Der NZZ-Autor Fischer ist sich dieses Umstands wohl bewusst, versucht in seinem Artikel aber, trotzdem den Eindruck zu erwecken, dass in erster Linie die Pharmaunternehmen ganz alleine ein Risiko eingegangen seien. Das resultiert in Logikperlen wie dieser hier:
Aber auch öffentliche Gelder trugen wesentlich dazu bei, dass verschiedene Firmen schnell dreistellige Millionenbeiträge ins Risiko stellen konnten.
Auch “öffentliche Gelder” trugen dazu bei, dass Pharmaunternehmen “dreistellige Millionenbeiträge ins Risiko stellen konnten“. Das ist Neusprech für: Die Entwicklung der Impfstoffe wurde öffentlich finanziert.
Zweitens versäumt es Fischer, in seinem Artikel zu besprechen, dass die Technologien, die bei den Corona-Impfstoffen zum Einsatz kommen, in jahrzehntelanger öffentlicher Forschung entwickelt wurden. Das ist ein Schlüsselfaktor: Öffentlich finanzierte Wissenschaft ist einmal mehr das Fundament, auf dem später privatwirtschaftliche Produkte hergestellt werden. Das muss nicht per se schlecht sein, ist aber in einer Lobeshymne auf die vermeintlichen Errungenschaften des Kapitalismus im Mindesten erwähnenswert.
Stichwort “Marktbasierte Anreize”
Fischer plädiert in seinem Artikel dafür, dass wir mehr “marktbasierte Anreize” brauchen, damit mehr Menschen schneller geimpft werden können. Mehr Impfungen in kürzerer Zeit klingt natürlich gut. Mit was für “ marktbasierten Anreizen” erreichen wir dieses Ziel?
Zunächst beschreibt Fischer, dass es für Pharmaunternehmen ökonomisch nicht attraktiv ist, ihre Produktionskapazitäten auszubauen:
Für viele Firmen ist es nämlich betriebswirtschaftlich wenig sinnvoll, enorme Mittel in den rasanten Aufbau von Spitzen-Produktionskapazitäten zu stecken, die möglicherweise nach wenigen Monaten bereits unterausgelastet wären.
Das ist, nüchtern betrachtet, ein klassischer Fall kapitalistischen Marktversagens: Ein wertvolles öffentliches Gut wird nicht bereitgestellt, weil die wirtschaftlichen Logiken dagegen sprechen. Dieser Umstand wäre ein guter Ausgangspunkt für eine kritische Diskussion darüber, was im kapitalistisch organisierten Gesundheitswesen schief läuft und, wie wir wichtige öffentliche Güter wie genügend Impfstoffe mit alternativen Modellen erreichen können. Doch durch die NZZ-Brille gesehen ist diese Ausgangslage ganz anders zu beurteilen. Fischer schreibt:
Es würde sich somit lohnen, für schnellere Lieferungen mehr zu bezahlen. Das könnte durch höhere Preise für zusätzliche Produktion und auch durch eine saftige Prämie bei vorzeitiger Lieferung geschehen, so wie auch Abzüge und Strafzahlungen bei Verspätungen vereinbart werden sollten.
Der Staat, also die Allgemeinheit, soll also einfach ordentlich draufzahlen bei den Impfungen, damit die Rechnung für die Pharmaunternehmen aufgeht. Aha. Das ist also ein “marktbasierter Anreiz”.
Fazit: Kapitalismus ist, wenn das Kapital gewinnt
Über Fischers Artikel in der NZZ könnte man Schmunzeln, wäre die Angelegenheit nicht so ernst. Ein Paradebeispiel dafür, wie Kapitalismus versagt, wird durch den ideologischen Fleischwolf gedreht und als grosser Erfolgsmoment für den Kapitalismus aufgetischt. Die fast schon freche Krönung des Ganzen ist Fischers abschliessende Mahnung, die Lehre aus der Krise dürfe nicht ein “neuer naiver Etatismus” sein.
Die Liebeserklärung der NZZ an den Covid-Kapitalismus hat, rational betrachtet, recht surreale Qualitäten. Aber der Artikel ist gleichzeitig auch schönes Anschauungsmaterial für die tatsächlichen Interessen des Kapitals: Kapitalismus funktioniert aus Sicht des Kapitals, wenn das Kapital am Ende gewinnt. Nichts anderes zählt. “Wettbewerb”, “unternehmerisches Risiko”, “Markt” und dergleichen sind lediglich ausgefeilte Propaganda-Kampfbegriffe; ideologische Nebelpetarden, die von den tatsächlichen Realitäten ablenken.