Der "Dritte Weg" – in den Abgrund
Institutionalisierte linke Politik hat sich im neoliberalen Nichts aufgelöst.
Nach über einem Jahr Coronavirus-Pandemie frage ich mich: Wo zum Teufel bleiben die Linken?
Die Pandemie hat schon früh die hässliche Fratze unserer kapitalistischen Gesellschaftsordnung offenbart: Das grösste unmittelbare Risiko der Pandemie tragen ausgerechnet die “essenziellen” Arbeiter*innen — von Pflegepersonal über Supermarktangestellte bis hin zu Gig Workern — , die in materieller Hinsicht am wenigsten gesellschaftliche Wertschätzung erhalten; jahrzehntelange Sparmanöver im Gesundheitssystem haben zahlreiche westliche Länder völlig unvorbereitet ins offene Messer der Pandemie laufen lassen; die Reichen und Reichsten werden in der Pandemie reicher, während die Unterschicht des ökonomischen Prekariats wächst und immer mehr Menschen mit existenziellen Nöten konfrontiert sind.
Eine solche Krisensituation müsste eigentlich ein perfektes Gelegenheitsfenster für linke Parteien sein, um für einschneidende Massnahmen und Reformen zu kämpfen, die kurzfristig die Nöte der breiten Bevölkerung in der Pandemie lindern sowie mittel- und langfristig neue Perspektiven für mehr materielle, ökonomische Gleichheit und Fairness aufzeigen. Die Krise als Chance, so abgedroschen es auch klingen mag.
Doch irgendwie tut sich auf linker Seite nichts. Von Visionen und neuen Entwürfen für eine gerechtere Welt ist weit und breit keine Spur. Stattdessen verheddern sich etablierte linke Parteien im politischen Alltagsgeschäft und gehen in keynesianisch-technokratischem Krisenmanagement, das strukturell nichts bewegt, unter. Wie kommt das?
Klar, die Corona-Pandemie ist eine grosse Krise, deren Bewältigung viel unmittelbare politische Aufmerksamkeit absorbiert. Aber das Problem mit der Fantasielosigkeit linker Parteien ist tiefgreifender: In westlichen Ländern gibt es im Wesentlichen gar keine ökonomisch linken politischen Parteien mehr, sondern nur noch Mitte- bis Rechtsparteien. Ehemals linke Parteien haben kapituliert und sich zu Mitte-Parteien gewandelt. Und zwar nicht zufällig, sondern nach Plan: Die quasi-neoliberale Ideologie des “Dritten Weges”, “The Third Way”, war ein bewusster Kniefall vor den Interessen des Grosskapitals — und de facto die Selbstzerstörung der institutionalisierten politischen Linken.
Klingt ziemlich verrückt, oder? Ist es auch.
Der Siegeszug des Neoliberalismus und die Geburt des “Dritten Wegs”
Die ersten rund zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg waren in vielen westlichen Ländern von sozialem Fortschritt gezeichnet. Bürgerrechts- und andere Bewegungen haben Frauen und gesellschaftlichen Minderheiten zu mehr Rechten verholfen, und das Pendel im Klassenkampf bewegte sich in Richtung Arbeiterschaft. Gewerkschaften erfreuten sich steigender Beliebtheit, der kapitalistische Wirtschaftswachstum kam dank hoher Besteuerung und umfangreichen Umverteilungsmassnahmen auch den Arbeiter*innen zugute, und weitreichende sozialstaatliche Reformen wie staatlich geregelte Altersrenten ermöglichten vielen Millionen von Menschen, ein würdevolleres, lebenswerteres Leben zu leben. Die Nachkriegsjahre waren so etwas wie die Blütezeit eines “sozialen” Kapitalismus.
Klingt eigentlich gut, oder? Wenn man zum sogenannten Proletariat, also zur Mehrheit der Gesellschaft, die von Lohnarbeit lebt, gehört, durchaus. Wenn man aber der Überzeugung ist, dass die Bourgeoisie, also die Interessen des Kapitals, tonangebend sein muss, dann waren die Nachkriegsjahre die Hölle. In Elitekreisen gewann darum eine pro-kapitalistischhe philosophische und ökonomische Denkrichtung an Bedeutung, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die anti-kapitalistischen Reformen der Nachkriegsjahre zu stoppen und möglichst ins Gegenteil umzudrehen: Der Neoliberalismus.
Neoliberalismus ist keine eindeutig und ganz klar formulierte Theorie oder Konzept, sondern mehr eine Art Diagnosebegriff für eine Ideologie, die ca. ab den 1970er Jahren zum dominanten ideologischen Überbau des Westens wurde. Die Ursprünge neoliberalen Denkens werden gemeinhin einflussreichen Ökonomen und Philosophen wie Thomas Hayek, Milton Friedman und Robert Nozick zugeschrieben, die sich in den Nachkriegsjahren in Organisationen wie der Mont Pèlerin-Gesellschaft mit Gleichgesinnten vernetzten und neoliberale Überzeugungen zu einer mächtigen Elitebewegung reifen liessen, die die Welt verändern sollte.
Neoliberalismus umfasst zwei zentrale Komponenten: Wirtschaftspolitische Reformen und eine übergeordnete massentaugliche gesellschaftliche Ideologie. Die neoliberalen wirtschaftspolitischen Reformen umfassen Deregulierung, Privatisierung, Abbau des Sozialstaates, Steuersenkungen und “Liberalisierung” (Abbau von Arbeitnehmerrechten). Neoliberalismus als gesellschaftliche Ideologie fokussiert auf die “Freiheiten” und “Pflichten” des Individuums. Dazu gehört etwa das leere Versprechen der “Meritokratie”, gemäss dem individueller materieller Erfolg schlicht eine Funktion individueller Leistungsbereitschaft sei — wer will, kann auch. Staatliche Eingriffe sind des Teufels, weil dadurch individuelle Freiheit verloren geht.
Neoliberalismus wurde spätestens in den 1980er Jahren zur dominanten politisch-ideologischen Lesart des Kapitalismus. Politische Figuren wie Ronald Reagan, Margaret Thatcher oder Augusto Pinochet fungierten als neoliberale Cheerleader, die Neoliberalismus mit Zuckerrübe und Peitsche salonfähig machten (Peitsche steht u.a. für illegale Kriege, Zurechtknüppeln von Gewerkschaftsmitgliedern und gute alte Folter), und die neoliberale Dereguliserungswelle der 1980er Jahre führte zum globalen Aufstieg des Finanzkapitalismus, in dessen Rahmen, anders als beim Industriekapitalismus, nicht realwirtschaftlicher Wachstum im Vordergrund steht, sondern die Wertsteigerung von Anlagen.
Neoliberalismus ist ökonomisch ein durch und durch rechtes politisches Projekt. Was war die Reaktion linker Parteien und Akteure auf diese totale kapitalistische Vereinnahmung? Eine Reaktion auf den Neoliberalismus gab es — aber sie fiel anders aus, als man vielleicht hätte erwarten können. Anstatt sich mit Ideologie-, Macht- und Kapitalismuskritik als Gegengewicht zu neoliberalen Plänen zu positionieren, fand im linken Lager eine Art Reorientierung statt: Neoliberalismus wurde nicht bekämpft, sondern einfach in einer weniger radikalen Form als Leitideologie übernommen.
Einer der Vordenker dieser neuen neoliberalen Linken ist der Star-Soziologie Anthony Giddens. In Büchern wie The Consequences of Modernity von 1991, Beyond Left and Right: The Future of Radical Politics von 1994 oder The Third Way: The Renewal of Social Democracy von 1998 präsentierte er eine Vision für linke Parteien in einer neoliberalen Welt nach dem Ende des Kalten Krieges. Linke Parteien, so Giddens’ Plädoyer, sollen aufhören, offen anti-kapitalistische, sozialistisch inspirierte Politik zu fordern und zu betreiben. Stattdessen sollen sie die Realität des (Finanz-)Kapitalismus akzeptieren und sich auf wohlfahrtsstaatliche Reformen fokussieren. Das war für Giddens ein “radikaler Zentrismus”: Wirtschaftlich rechts und sozial irgendwie trotzdem noch progressiv, weil man nicht ganz so rechts wie die rechten, bürgerlichen Parteien ist. Dieses Plädoyer für Zentrismus wurde als “Dritter Weg” berühmt.
Die Idee eines modernen Dritten Weges für sozialdemokratische Parteien schlug ein wie eine Bombe. Politiker wie Bill Clinton in den USA, Gerhard Schröder in Deutschland oder Tony Blair im Vereinigten Königreich wurden charismatische Aushängeschilder für diese neue Ideologie, die eine Art sympathischen Neoliberalismus Light versprach: Weg vom alten Mief des Sozialismus und mit Vollgas rein in eine kapitalistische Zukunft mit einem Hauch sozialdemokratischen je ne sais quoi. Ein pragmatisches Gegenprogramm zu den Hardcore-Neoliberalen von rechts.
Die vermeintlich zukunfstweisende Formel des Dritten Weges verbreitete sich wie ein Lauffeuer in vielen westlichen Ländern. Und läutete die Implosion der Linken ein.
Was der Dritte Weg bedeutet
Der Dritte Weg mag nach einer vernünftigen Neuorientierung klingen, mit der sich linke Parteien an neue Gegebenheiten angepasst haben. Doch in Tat und Wahrheit war es ein Kniefall vor den Interessen des Grosskapitals, und damit letztlich auch politisches Seppuku. Warum, lässt sich mit dem Konzept des Overton-Fensters veranschaulichen.
Bei politischen Diskursen gibt es ein Spektrum an tatsächlich möglichen an Policy-Positionen, und es gibt einen Ausschnitt aus diesem Spektrum, das sogenannte Overton-Fenster, das als effektives Spektrum für Policy-Positionen verstanden werden kann. Im “Mainstream” des politischen Diskurses gilt nicht alles, was politisch theoretisch machbar ist, als akzeptabel. Es gibt, so unser Bauchgefühl, Positionen, über die wir reden können, und dann gibt es die “extremen” Forderungen, die wir nicht ernst nehmen müssen. Was im Diskurs als “normal” und was als “extrem” gilt, ist kein Zufall.
In der Nachkriegszeit war das Overton-Fenster zur ökonomischen Konfliktlinie Kapital vs. Arbeiterschaft recht breit. Parteien, die links waren, vertraten stark anti-kapitalistische Positionen.
Im Rahmen des neoliberalen Dritten Weges hat sich die ökonomische Positionierung vieler linker Parteien drastisch verschoben. Linke Parteien haben sich aktiv und bewusst von stark linken Forderungen verabschiedet, um sich ökonomisch in der “politischen Mitte” zu positionieren.
Dadurch wurde das Overton-Fenster, also der diskursive Raum der Konfliktlinie Kapital vs. Arbeiterschaft, massiv nach rechts verschoben. Die pro-kapitalistischen Maximalforderungen von rechts blieben bestehen, aber stark anti-kapitalistische Forderungen gab es keine mehr. Die radikalsten “linken” Positionen waren von nun an ziemlich zahnlose Mitte-Positionen.
Die Folgen der Verschiebung des politischen Diskussions-Spielraums durch den Dritten Weg sind doppelt verheerend. Einerseits führte die Verschiebung nach rechts dazu, dass die ehemals linken sozialdemokratischen Parteien neoliberale Reformprojekte wie den Abbau des Sozialstaates oder Deregulierung (Deregulierung der Clinton-Regierung hat massgeblich zur Finanzkrise von 2008 beigetragen) mit grosser Euphorie in Angriff nahmen. Solche offenkundig pro-kapitalistischen Reformen gelten im neuen Overton-Fenster nämlich als als “mitte links”.
Andererseits haben sich sozialdemokratische Parteien mit dem Dritten Weg selber torpediert. Der sozialdemokratische Kampf für die Interessen des Kapitals und gegen die Interessen der Arbeiterschaft (oder, wohlwollender: der extrem sanfte und zurückhaltende Kampf für die Interessen der Arbeiterschaft) hat in vielen Ländern zu massiven Wählerschafts-Einbrüchen der ehemals linken, sozialdemokratischen Parteien geführt.
Mit dieser Transformation ehemals linker Parteien hat der Dritte Weg auch ein anti-kapitalistisches Vakuum geschaffen, das nicht zuletzt von rechtspopulistisch-faschistoiden Rattenfängern wie Donald Trump gefüllt wird: Akteure und Parteien, die den Verlierern des modernen Finanzkapitalismus Besserung versprechen, ihnen in Tat und Wahrheit aber nur Hass auf anders aussehende und anders denkende Menschen liefern (Auch unter Trump und Co. geht die ökonomische Ausbeutung der Kapitalismusverlierer ungehindert weiter.).
Ist institutionalisierte linke Parteipolitik noch zu retten?
Steht uns ein Comeback linker Parteipolitik bevor? Ich bezweifle es. Sklerotische Parteiapparate sind in der Regel viel zu sehr mit internem und externem Machterhalt beschäftigt, um ernsthafte Visionen zu erarbeiten und Kurswechsel einzuschlagen. Was zählt, ist das Ergebnis bei den nächsten Wahlen; nicht das Wohl der Gesellschaft.
Darüber hinaus und allgemeiner haben ehemals linke Parteien das neoliberale Credo des Dritten Weges aufgesaugt und verinnerlicht. Will heissen: Die denken wirklich so.
Was ist die Lösung, wenn nicht etablierte Parteien? Ein erster wichtiger Schritt ist, das Overton-Fenster im öffentlichen Diskurs wieder zu öffnen bzw. nach links zu verschieben. Der neoliberale Konsens, dass ungezügelter Finanzkapitalismus in Kombination mit Mini-Wohlfahrtsstaat der Weisheit letzter Schluss ist, gehört kritisiert. Wir müssen wieder über das Spektrum des tatsächlich Möglichen und des moralisch Wünschenswerten streiten. In einem so geöffneten politischen Diskurs kann politischer Druck von unten entstehen, der “linke” Parteien aus ihrem neoliberalen Dornröschenschlaf wachrüttelt.