Die Grenzen von Dialog, oder: Manche Brücken führen ins Nichts
"Dialog" ist leider nicht das magische Allheilmittel, als das er angepriesen wird.
Ein Gespenst geht um in Europa — das Gespenst der Corona-bedingten “Spaltung der Gesellschaft”. Die Corona-Massnahmen, hören wir seit rund einem Jahr1, würden unsere einst offenbar harmonisch-einige Gesellschaft auseinandertreiben: Die einen halten sich bereitwillig an Maskenpflicht, lassen sich impfen und zücken ohne Murren ihr Covid-Zertifikat, und die anderen sehen das Ganze als skandalösen, ja gar “diktatorischen” Eingriff in ihre Freiheit, dem sie sich nicht beugen wollen. Die Corona-Massnahmen polarisieren und treiben einen Keil zwischen Arbeitskolleg*innen, Freund*innen, Familienangehörige.
Wie kann die Lage entspannt werden? Natürlich: Wir brauchen mehr Dialog.
Die, grob gesprochen, Massnahme-Befürworter*innen müssen aktiv und wohlwollend auf Massnahme-Gegner*innen zugehen, Verständnis und Empathie zeigen, und nicht zuletzt Kompromissbereitschaft signalisieren. Wir müssen wieder mehr miteinander reden als nur übereinander. Brücken bauen, um die Gräben zu überwinden. So und nur so finden wir aus der Polarisierungsspirale wieder heraus.
Tatsächlich zeigt die Forschung2, dass Empathie und ein Begegnen auf Augenhöhe ein wirksamer Ansatz sein kann, um sich bei umstrittenen Themen inhaltlich näher zu kommen. Wenn wir Verständnis zeigen und aufrichtig Fragen stellen anstatt den mahnenden Finger zu erheben, können wir Abwehrreflexe überwinden (niemand fühlt sich gerne angegriffen) und ins Gespräch finden.
Auch, wenn ein solcher Dialog letztlich nicht unbedingt dazu führt, dass sich beide Seiten am Schluss in der Sache einig sind, kann zumindest die zwischenmenschliche Distanz ein Stück weit abgebaut werden. So in etwa lautete denn auch mein versöhnliches Fazit nach einem rund zweistündigen Gespräch mit Daniel Stricker von StrickerTV3, einem der bekanntesten und radikalsten Corona-Massnahme-Gegner der Schweiz.
Also: Dialog gut, alles gut?
Ganz so einfach ist die Sache leider nicht. Das Streben nach Dialog und Brückenbauerei kann in vielen Kontexten grundsätzlich positive Früchte zeitigen und zu einer Annäherung und Beruhigung beitragen. Aber der Schuss kann auch gehörig nach hinten losgehen: Dadurch, dass wir in Corona-Zeiten angestrengt nach Dialog und Verständigung suchen, riskieren wir paradoxerweise, die vielbeschworene Spaltung der Gesellschaft nicht zu überwinden, sondern sie im Gegenteil zu befeuern.
Nicht alles steht zur Diskussion
Politik, Medien, Zivilgesellschaft: In Sachen Corona wird von vielen Seiten also mehr Dialog als Weg zur Versöhnung angepriesen, und das klingt, wie oben beschrieben, grundsätzlich ja ganz sinnvoll. Doch dieser Appell für mehr Dialog wirft handkehrum auch eine Frage auf: Warum pochen wir eigentlich nicht auch bei anderen umstrittenen Themen genauso stark auf Dialog und Verständigung? Schliesslich ist die Corona-Pandemie bei Weitem nicht das einzige Problem, bei dem es ganz gegensätzliche Ansichten gibt.
Viele Menschen glauben beispielsweise, dass Impfungen Autismus verursachen. Oder, dass es keinen menschengemachten Klimawandel gibt. Oder, dass Homosexuelle geisteskrank sind. Oder, dass Menschen mit dunkler Hautfarbe keine richtigen Menschen sind. Oder, dass der Holocaust nie stattgefunden hat. Bei all diesen Themen und Ansichten könnten wir auch den Dialog suchen, runde Tische organisieren, die Hand ausstrecken. Doch wir tun es nicht wirklich. Warum? Weil es manchmal gute Gründe gibt, nicht alle Ansichten als gleichwertig zu erachten. Nicht jede Überzeugung verdient es, in einem freundlichen Dialog mehr Gewicht und Legitimität zu erhalten, als ihr rationalerweise zusteht. Das gilt besonders für öffentlichkeitswirksame Formen von Dialog wie zum Beispiel öffentliche Veranstaltungen oder Berichterstattung in journalistischen Medien.
Wenn wir Dialog und Versöhnung auch dann anstreben, wenn es gute Gründe gibt, nicht alle Positionen als gleichwertig und gleichermassen diskutabel anzusehen, gehen wir mindestens drei Risiken ein: Falsche Ausgewogenheit, die Normalisierung extremistischer Ansichten sowie epistemischen Schaden.
Falsche Ausgewogenheit: Rein theoretisch sollte ein Dialog auf Augenhöhe auch dann kein Problem sein, wenn eine Position extremistisch und offenkundig irrational ist. Wir hören uns einfach die Argumente an und entscheiden anschliessend, welche Position besser begründet ist. In der Praxis funktioniert die menschliche Psyche aber nicht so. Wenn wir einen Dialog mit zwei Positionen sehen, haben wir ganz automatisch das Gefühl, dass der Sachverhalt unklar sei und die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegt — und zwar auch dann, wenn die eigentlichen Fakten überwältigend klar in eine Richtung deuten4 5. Dieser psychologische Mechanismus ist als “False Balance”, oder auf Deutsch als falsche Ausgewogenheit, bekannt. Falsche Ausgewogenheit hat einen derart starken Effekt, dass sie zu einer gängigen Propaganda-Strategie von Industriezweigen geworden ist, die damit erfolgreich Zweifel an wissenschaftlichen Erkenntnissen z.B. zu den Gefahren von Blei in der Umwelt, von Zigaretten-Rauchen, von Medikamenten-Nebenwirkungen, oder auch von Klimawandel säen6 7.
Normalisierung extremistisch-irrationaler Ansichten: In einem früheren Text8 zur Rolle der Medien bei der Corona-Radikalisierung kritisiere ich, dass die anhaltende und ungefilterte Berichterstattung rund um Behauptungen extremistischer Corona-Massnahme-Gegner*innen dazu führt, dass sich der diskursive Raum in Richtung dieser extremistischen Rhetorik verschiebt. Was vor Kurzem noch zurecht als extremistisch und wirr galt, wird immer akzeptabler. Derselbe Effekt der unerwünschten Verschiebung des Sagbaren findet auch statt, wenn wir Dialog und Versöhnung überstrapazieren. Indem extremistische Botschaften in wie auch immer gearteten Dialogen als legitime, ernst zu nehmende Meinung präsentiert werden, erfahren die Botschaften ein sogenanntes “Mainstreaming”9: Wir gewöhnen uns an sie und akzeptieren den Extremismus mit der Zeit als lediglich eine weitere Meinung, die man legitimerweise haben kann.
Epistemischer Schaden: “Epistemisch” ist ein Begriff, den ich gerne benutze, um schlauer zu klingen, als ich es bin. Epistemisch meint einfach, dass etwas mit Wissen zu tun hat. Epistemischer Schaden im Kontext der hyperaktiven Dialogsuche meint entsprechend, dass angestrengte, inhaltlich fragwürdige Dialogversuche dem Wissen all jener, die ihnen ausgesetzt sind, einen Abbruch tun können. Weniger verschwurbelt ausgedrückt: Wenn wir Dialog inszenieren, kann sich dadurch Falschinformation verbreiten und in den Köpfen der direkt Beteiligten sowie des breiteren Publikums festsetzen. Einer der Gründe dafür ist der sogenannte Effekt der illusorischen Wahrheit10: Wenn wir einer Falschinformation wiederholt ausgesetzt sind, beginnen wir mit der Zeit, zu glauben, dass sie wahr ist — und zwar auch dann, wenn wir eigentlich wissen, dass es sich um Quatsch handelt11.
In der Summe bedeuten diese drei Risiken, dass der Schaden, der mittels Dialog behoben werden soll, durch ihn überhaupt erst zustande kommen kann: Falsche Ausgewogenheit, Normalisierung von Extremismus und das Verbreiten von Falschinformationen sind just jene Ingredienzien, die zur Spaltung des Gesellschaft führen.
An dieser Stelle mag man einwenden, dass meine Kritik an übereifriger Dialogbereitschaft einen Hauch von Totschweigen und Wegschauen hat. Sollen problematische Ansichten also einfach ignoriert werden?
Nein. Ich bin überzeugt, dass das beste Mittel gegen schlechte Argumente gute Argument sind. Aber Dialog und runde Tische sind nicht immer das geeignete Format, um schlechte Argumente als solche zu entkräften. Im Umgang mit Falschinformationen beispielsweise gibt es erprobte Debunking- und Prebunking-Methoden12, mit denen eine kritische inhaltliche Auseinandersetzung stattfinden kann, und zwar ohne das Risiko, den Falschinformationen eine ungefilterte Bühne zu bieten.
Wann und wie macht Corona-Dialog Sinn?
Zusammengefasst ist mein Argument also: Dialog kann nützlich sein, aber Dialog ist kein Allheilmittel; wir brauchen mehr kritische Analyse, Einordnung, Kontext. Wann und wie sollen wir Corona-Dialog nun aber anstreben und wann nicht?
Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich, zwischen privaten Situationen wie Gesprächen mit Freund*innen oder Familienangehörigen und öffentlichen Situationen wie der Berichterstattung in den Medien zu unterscheiden.
In privatem Umfeld ist meine Daumenregel für Dialog: Zum Tango braucht es zwei. Für offene, empathische Gespräche ohne Konfrontation oder Aggressivität bin ich persönlich immer zu haben, solange diese Offenheit und Empathie zumindest ein Stück weit auf beiden Seiten gegeben ist. Wenn ich aber den Eindruck habe, bei einer Person auf diskursiven Granit zu beissen, probiere ich lediglich, meine zentralen Argumente freundlich und kompakt zusammenzufassen (oft gepaart mit Verweisen auf weiterführende Quellen), gehe einer längeren Streiterei aber aus dem Weg.
In öffentlichen Kontexten wie zum Beispiel journalistischer Berichterstattung sind die drei oben beschriebenen Risiken mögliche Entscheidungshilfen. Dialogformate sind demgemäss dann erstrebenswert, wenn:
durch sie keine falsche Ausgewogenheit projiziert wird;
mit ihnen keine extremistischen Ansichten normalisiert werden;
sie nicht Falschinformation ungefiltert weiterverbreiten.
Diese drei Pfeiler sind nur Orientierungshilfen. Ob und wie ein konkretes Dialogformat realisiert werden soll, muss von Fall zu Fall beurteilt werden. Das ist weniger bequem als die pauschale Daumenregel “Dialog ist immer gut”. Aber wer, wie nicht zuletzt journalistische Medien, den öffentlichen Diskurs wesentlich mitprägt, muss sich dieser Verantwortung stellen.
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