Egal, ob es um die Gender-Identität, um Klimawandel, um materielle Ungleichheit, um Veganismus, oder sogar um die Corona-Impfungen geht: Linke Gutmenschen üben sich in einem überbordenden, die freie Debatte erstickenden Moralismus. Mit erhobenem Zeigefinger proklamieren sie die eigene Ansicht als die einzig richtige und wollen alle, die die Dinge anders sehen, geisseln. Oder schlimmer noch: Sie canceln!
So zumindest klingen die lauten Wehklagen aus dem zumeist rechtskonservativen Lager. Was ist dran an dem Vorwurf? Erleben wir gegenwärtig, wie es der Schweizer Publizist und Politiker Roger Köppel formuliert, eine “Seuche” des “Tugend-Terrors”?
In der heutigen Zeit der ungefilterten Instant-Kommunikation auf Social Media wird in moralischen Fragen zweifellos viel aus der Hüfte geschossen, was eher affektiven als rationalen, wohlüberlegten Charakter hat. Shitstorms beispielsweise, in denen Einzelpersonen vorschnell abgekanzelt oder gefeiert werden, sind ein problematisches Phänomen, denn die korrekte moralische Beurteilung und Einordnung braucht Zeit. Zuerst sollte die kühle Analyse stattfinden, dann die Empörung; auf Social Media ist der Ablauf oft umgekehrt.
Darüber hinaus glaube ich, dass zum Beispiel die linke Linke-Politikerin Sarah Wagenknecht mit der Kritik in ihrem Buch “Die Selbstgerechten” ein gutes Stück weit recht hat: Das linksliberale politische Spektrum fokussiert (auch) zugunsten “trendiger” Themen zu wenig auf “klassische” materielle Ungleichheiten und Machtasymmetrien, die aber nach wie vor, und heute wohl sogar mehr denn je, viele Millionen Menschen in wirtschaftlich prekäre Verhältnisse drängen (Ein Symptom hiervon ist, dass sich Grosskonzerne heutzutage gerne dafür beklatschen lassen, dass sie “woke”, also moralisch à jour sind, obwohl sie die Minderheiten, die sie zu zelebrieren vorgeben, in Tat und Wahrheit wirtschaftlich brutal ausbeuten.).
Ist die politische Debatte also geprägt von einem um sich greifenden Moralismus? Nein. Der Vorwurf des “Moralismus” und des “Moralisierens” ist keine differenzierte Kritik und keine saubere Analyse. Es ist ein Totschlagargument. Ein rhetorischer Zweihänder, mit dem unbequeme moralische Anliegen pauschal vom Tisch gefegt werden sollen.
Schaut man sich die gängigen “Moralismus”-Vorwürfe der (nicht ausschliesslich, aber tendenziell) rechtskonservativen Intelligenzija genauer an, fällt auf, dass bei der nicht selten wortreichen Kritik eines oft fehlt: Eine konkrete inhaltliche Auseinandersetzung mit den kritisierten Positionen. Ein Beispiel. Vor einigen Jahren hat sich der Philosoph Alexander Grau in dem in bildungsbürgerlichen Kreisen viel beachteten Magazin “Cicero” mit Veganismus auseinandersetzt. Seine Schlussfolgerung: Veganer seien “moralische Totalitaristen”. In seinem Essay geht er aber mit keinem Wort auf das zentrale moralphilosophische Argument von Veganer*innen ein: Nicht-menschliche Tiere sind empfindungsfähige Wesen wie wir Menschen auch, und der Konsum tierischer Produkte verursacht enorm viel Leid — Leid, das vermeidbar ist, ohne, dass wir Menschen dadurch grosse Einbussen bei der Lebensqualität zu beklagen haben.
Graus Essay ist sinnbildlich für die allgemeine Dramaturgie von “Moralismus”-Vorwürfen. Eine konkrete und faire inhaltliche Auseinandersetzung mit den kritisierten Positionen findet nicht statt. Stattdessen macht der “Moralismus”-Vorwurf ironischerweise genau das, was er den Kritisierten vorwirft: Er ist blosse moralische Empörung ohne inhaltliche Kritik, die ihr rhetorisches Gewicht dadurch erhält, dass sie sich an Karikaturen und Überzeichnungen der kritisierten Positionen abarbeitet. Die tatsächlichen Moralist*innen sind damit in Tat und Wahrheit jene, die pauschalisierend “Moralismus!” schreien.
Moralismus-Vorwürfe als Totschlagargument bedeuten letztlich eine inhaltliche Kapitulation: Ich kann nicht erklären, warum deine moralische Position und Forderung falsch ist. Darum greife ich deine Position pauschal als “Moralismus” an und ignoriere sie. Die Qualität dieser Argumentation ist in etwa auf dem Niveau eines zornigen “Du bist blöd, darum hast du Unrecht!”. Ein Strohmann-Argument, wie es im Buche steht.
Gesellschaftlicher Fortschritt entsteht dann und nur dann, wenn wir intensive moralische bzw. moralphilosophische Debatten austragen, um zu bestimmen, wie wir zu einer besseren Gemeinschaft werden können. Das ist unbequem und mündet nicht selten in Streit und Konflikt. Moralischer Fortschritt bedeutet schliesslich, dass das Bestehende, das für uns ganz “normal” und selbstverständlich ist, kritisch hinterfragt wird, und, dass Machtstrukturen aufgelöst oder zumindest aufgeweicht werden. Das tut weh und verursacht Reibung.
Dieser unangenehme Schmerz der moralischen Debatte ist aber der Motor, der uns als demokratische Gesellschaft vorwärts bringt. All jene, die dieser Debatte mit dem “Moralismus!”-Totschlagargument aus dem Weg zu gehen versuchen, demonstrieren damit wenig mehr als ihr Unbehagen mit gesellschaftlichem Wandel. Wandel, den sie zwar ablehnen, dafür aber keine guten Gründe haben.