Prebunking: Menschen gegen Falschinformation impfen
Das beste Mittel gegen Verschwörungstheorien, Fake News und Desinformation könnte eine kleine Dosis des Giftes sein.
Die Coronavirus-Pandemie hat verdeutlicht, was schon seit Jahren Tatsache ist: Wir leben im Zeitalter der Falschinformation.
Gerüchte, Verschwörungstheorien, Fake News oder auch gezielt gestreute Desinformation kursieren heutzutage nicht zuletzt auf Social Media-Plattformen ungebremst in gigantischem Ausmass und verursachen sowohl epistemischen (Menschen glauben ohne gute Gründe an z.T. wirre Dinge) als auch ganz konkreten gesellschaftlichen Schaden (z.B., indem Menschen nützliche Impfungen ablehnen oder sich politisch radikalisieren).
Unser Umgang mit der nicht enden wollenden Flut an Falschinformationen ist bisher von einer gewissen Hilflosigkeit gezeichnet. Falschinformationen finden regelmässig virale Verbreitung und setzen sich in den Köpfen von Millionen von Menschen fest. Als Reaktion darauf versuchen wir als Gesellschaft jeweils, gut begründete, wissenschaftlich fundierte Informationen bereitzustellen; in der Hoffnung, dass diese korrigierenden Informationen eine positive Wirkung haben.
Dieses Vorgehen — im Nachhinein retten, was zu retten ist — funktioniert sicherlich zumindest ein Stück weit, denn Menschen sind schliesslich vernunftbegabt und können ihre Überzeugungen im Lichte neuer Information anpassen. Doch dieser Ansatz, der auch als “Debunking” (entlarven) bekannt ist, ist in der Praxis ziemlich harzig: Wenn sich Falschinformation in den Köpfen von Menschen erst Mal verankert hat, ist es verdammt schwierig, an ihr zu rütteln.
Wäre es darum nicht schön, wenn wir uns schon vorher, bevor wir das Schlimmste passiert ist, gegen Falschinformation rüsten könnten? Wenn wir uns sprichwörtlich impfen könnten, um gegen zukünftige Falschinformationen gewappnet zu sein?
Genau dies scheint möglich zu sein, wie aktuelle psychologische Forschung zu “Prebunking” nahelegt. Anstatt zu warten, bis der Schaden angerichtet ist, können Menschen vorbeugend auf Falschinformationen vorbereitet werden — und zwar, indem sie einer kleinen Dosis des Giftes ausgesetzt werden.
Die Inoculation Theory und Prebunking
Die Frage, wie Menschen Meinungen bilden und wieder ändern, ist eine zentrale Fragestellung der Psychologie. Auch die in den 1960er Jahren entwickelte Inoculation Theory (Inokulationstheorie, also soviel wie “Impftheorie”) widmet sich dieser Fragestellung und fokussiert dabei auf den Aspekt der Persuasion: Wie und warum sind Argumente anderer Menschen für uns überzeugend?
Der kreative Clou an der Inoculation Theory ist aber, dass sie die Fragestellung im Grunde auf den Kopf stellt: Die Inoculation Theory befasst sich nicht mit der Frage, wie Einstellungen geändert werden können, sondern quasi im Gegenteil mit der Frage, wie Einstellungen widerstandsfähiger gemacht werden können. Was kann getan werden, damit Einstellungen und Überzeugungen angesichts harter Gegenargumente standhaft bleiben?
In der Forschung rund um die Inoculation Theory hat sich gezeigt, dass sogenannte kognitive Impfungen ein hoch wirksames Mittel sind, um zu verhindern, dass sich Einstellungen verändern. Eine kognitive Impfung ist eine Art Informationspaket, das aus Argumenten gegen eine Einstellung oder Überzeugung, die jemand hegt, besteht. Die Argumente gegen die Einstellung werden dabei aber nicht nur aufgezeigt (das alleine würde die Einstellung schwächen), sondern auch direkt und unmittelbar widerelgt. Wenn ich beispielsweise Partei A politisch unterstütze, kann meine Unterstützung für Partei A gefestigt werden, indem mir erklärt wird, was vermeintlich gegen Partei A spricht — und, warum diese Argumente falsch sind.
Das explizite vorbeugende Widerlegen von Argumenten, die eine Einstellung oder Überzeugung “gefährden” könnten, ist der springende Punkt der Inoculation Theory. Mit kognitiven Impfungen werden Menschen nicht den nackten Gegenargumenten ausgesetzt, sondern einer abgeschwächten Form der Gegenargumente: Die Gegenargumente werden aufgezeigt, aber gleichzeitig auch kritisiert und entkräftet. Wenn man dann in Zukunft mit einer aggressiveren Form der Gegenargumente in Kontakt kommt, ist man kognitiv bereits auf sie vorbereitet. Weil dieser Mechanismus bildlich gesprochen eine gewisse Ähnlichkeit zu medizinischen Impfungen hat, ist er als “kognitive Impfung” bekannt. In beiden Fällen, bei medizinischen und bei kognitiven Impfungen, kommt eine Person mit einer gezielt abgeschwächten Version eines “Erregers” in Kontakt und stärkt dadurch die Abwehrkräfte gegen diesen Erreger.
In der jüngeren Vergangenheit begannen Forscher*innen, zu untersuchen, ob die Erkenntnisse der Inoculation Theory auf das Problem der Falschinformation übertragbar sein könnten. Sind kognitive Impfungen ein wirksames Mittel, um Menschen widerstandsfähiger gegen Falschinformationen zu machen? Ist vorbeugendes “Prebunking” eine nützliche Alternative oder Ergänzung zu klassischem “Debunking”?
Dieser Frage gingen in den letzten Jahren zahlreiche Studien nach (vgl. die weiterführende Literatur ganz unten), und sie finden eine ziemlich klare Antwort: Kognitive Impfungen können ein hochwirksames Mittel sein, um die Anfälligkeit für Falschinformationen zu senken. Wer kognitiv gegen Falschinformation geimpft ist, erkennt Falschinformation häufiger als solche und fällt nicht auf sie rein.
Heureka! Prebunking ist endlich ein Silberstreifen am sonst so trüben Falschinformations-Horizont.
Drei Typen von Prebunking
In der Literatur zu Prebunking wird nach drei grundlegenden Typen von kognitiven Impfungen unterschieden: Quellenbasiertes, faktenbasiertes und logikbasiertes Prebunking.
Quellenbasiertes Prebunking: Quellenbasierte kognitive Impfungen sind Interventionen, die Menschen für Quellenkritik sensibilisieren. Das kann bedeuten, dass unseriöse Quellen direkt genannt und kritisert werden, oder, dass allgemeiner erklärt wird, was seriöse von unseriösen Quellen unterscheidet (z.B. der Bezug auf wissenschaftliche Literatur, Transparenz, usf.).
Faktenbasiertes Prebunking: Bei faktenbasierten kognitiven Impfungen geht es darum, vorbeugend für Falschinformation zu konkreten Sachverhalten zu sensibilisieren. Das funktioniert mit der sogenannten Sandwich-Methode gut: Zunächst wird der korrekte Sachverhalt präsentiert; dann folgt die Falschinformation; am Schluss wird nochmals der korrekte Sachverhalt präsentiert.
Logikbasiertes Prebunking: Mit logikbasierten kognitiven Impfungen wird aufgezeigt, wie rhetorische Tricks, logische Fehlschlüsse und kognitive Verzerrungen bei Falschinformationen mitschwingen. Wenn ich zum Beispiel frühzeitig vom “Appeal to Popularity”-Fehlschluss erfahre (nur, weil viele Menschen etwas machen oder gut finden, ist das, was sie machen oder gut finden, nicht automatisch richtig oder wünschenswert), lasse ich mich von einem Verschwörungs-Meme nicht automatisch beeindrucken, nur, weil es viele Likes hat.
Alle drei Prebunking-Varianten können im Kampf gegen Falschinformation nützlich sein. Bei quellenbasiertem Prebunking sollte allerdings darauf geachtet werden, nicht zu sehr zu pauschalisieren. Denn auch eine für sich genommene eher unzuverlässige Quelle, z.B. ein anonymer Verschwörungs-Blog, kann grundsätzlich wahre Inhalte und gute Argumente veröffentlichen. Darum sollte der Fokus meiner Meinung nach eher auf fakten- und logikbasiertem Prebunking liegen, weil diese Varianten ganz konkrete inhaltliche Schwachstellen von Falschinformation aufzeigen.
In der aktuellen Forschung gibt es Anzeichen, dass logikbasiertes Debunking den grössten Effekt der drei Varianten haben könnte. Ein Grund dafür könnte sein, dass diese Form kognitiver Impfungen eine gewisse universale Qualität hat und auf viele Formen der Falschinformation übertragbar ist.
Wie und wo soll Prebunking in der Praxis zum Einsatz kommen?
Die Forschung zu Prebunking ist umfassend, die Ergebnisse solide und vielversprechend. Das klingt soweit alles picobello. Nun stellt sich nur noch eine nicht ganz unwesentliche Frage: Wie genau soll Prebunking jetzt konkret in der Praxis eingesetzt werden?
Nach meinem Dafürhalten gibt es im Mindesten drei potenzielle Kanäle, über die Prebunking-Interventionen Impact generieren können: Schulen, journalistische Medien und staatliche Stellen.
Schulen: Schulen dürften der wichtigste Vektor für Prebunking sein. In Schulen können auf einen Schlag viele junge Menschen kognitiv geimpft werden, und die Zielgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist in puncto Falschinformation wohl die wichtigste. Je mehr junge Menschen heute erfolgreich gegen Falschinformation kognitiv geimpft werden, desto mehr zukünftiger Schaden wird abgewendet. Der Erwartungswert, also der zu erwartende positive Impact von Prebunking in Schulen ist enorm.
Journalistische Medien: Der zweite zentrale Vektor für Prebunking sind journalistische Medien. Medien sind nach wie vor zentrale Kristallisationspunkte im öffentlichen Diskurs, und Prebunking in Medien könnte eine entsprechend breite Wirkung zeitigen, weil ein verhältnismässig grosses Publikum angesprochen wird.
Staatliche Stellen: Ein dritter möglicher Kanal für Prebunking-Massnahmen ist die staatliche Verwaltung, die zum Beispiel in Form grossflächiger Kommunikationskampagnen Prebunking betreiben könnte. Bei diesem Kanal rate ich aber aus zwei Gründen zu Zurückhaltung. Erstens kann direkt staatlich orchestriertes Prebunking einen Beigeschmak staatlicher Manipulation haben (“Die da oben wollen uns etwas vorschreiben!”) und damit potenziell kontraproduktiv sein. Andererseits ist die staatliche Bürokratie nicht eben für Agilität und Schnelligkeit bekannt — Attribute, die im Kampf gegen Falschinformation mittels Prebunking ausschlaggebend sind. Es könnte darum schlauer sein, wenn sich die Rolle des Staates auf eine (Mit-)Finanzierung von Prebunking-Projekten beschränkt, ohne inhaltliche Mitwirkung.
Die konkreten Prebunking-Massnahmen, die in der Praxis zum Einsatz kommen, werden idealerweise von der Zivilgesellschaft erarbeitet. Von unabhängigen, gemeinnützigen Gruppen und Organisationen, je nach dem auch in Partnerschaft etwa mit Hochschulen. Ein gelungenes Beispiel für eine solche Partnerschaft ist das preisgekrönte Prebunking-Online-Spiel “Bad News”.
Zeit, Falschinformation den Kampf anzusagen
Auf die Forschung zu Prebunking und kognitiven Impfungen bin ich erst vor Kurzem gestossen, und ich bin regelrecht begeistert. Natürlich dürfen wir uns keine Illusionen machen, dass wir allein mittels Prebunking von heute auf morgen das weltumspannende Problem der Falschinformationen lösen werden. Es gibt noch zahlreiche weitere Faktoren, etwa die Architektur von Social Media-Plattformen, die bei der gegenwärtigen Falschinformations-Pandemie auch eine wichtige Rolle spielen. Aber Prebunking ist für einmal ein evidenzbasiertes Werkzeug, das es uns erlaubt, proaktiv etwas gegen Falschinformation zu unternehmen. Wir sind gegen Falschinformation nicht gänzlich machtlos.
Prebunking ist in diesem Sinn ein Hoffnungsschimmer im vielleicht schon verloren geglaubten Kampf gegen Falschinformation. Wir können mehr tun als nur passiv und im Nachhinein auf Falschinformationen zu reagieren. Wir können womöglich endlich einen kleinen Rettungsring auswerfen, dank dem die Wahrheit doch nicht komplett im Meer der Falschinformation untergeht.
Weiterführende Literatur
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