Schlechte Kapitalismuskritikkritik
Reflexartige Totschlagargumente gegen Kapitalismuskritik sind oft albern.
Ich muss ein Geständnis ablegen: Ich finde Kapitalismus nicht so toll.
Ich finde die dem Kapitalismus inhärente Akkumulation von Reichtum und Macht nicht toll, ich finde die Unterwanderung demokratischer Politik durch die Macht des Kapitals nicht toll, ich finde pfadabhängige und intergenerationale Ungleichheit nicht toll, ich finde klassenbedingte Unfairness von Lebensschancen nicht toll, ich finde die bizarren Anreize und Folgen des modernen Investorenkapitalismus nicht toll, ich finde die Kommodifizierung und künstliche Verknappung elementarer Grundgüter des individuellen sowie des öffentlichen Lebens nicht toll, und ich finde die angebrochene Ära des digitalen Überwachungskapitalismus so gar nicht toll (Ich bin altmodisch und bevorzuge meine Dystopien in Büchern und Filmen, nicht in der Realität.).
Aber hey, vielleicht hab ich Unrecht — lass uns darüber nachdenken, diskutieren, streiten. Klingt gut, oder? Doch leider geht das irgendwie oft nicht so einfach. Sobald nämlich die Rede davon ist, zu hinterfragen, was mit unserer kapitalistischen Gesellschaftsordnung vielleicht schief läuft, versteifen sich viele Menschen auf eine kuriose diskursive Abwehrhaltung. Die Diskussion über strukturelle Probleme unserer Gesellschaft wird gerne mit pauschalisierenden Totschlagargumenten blockiert, die zwar eine gewisse emotionale Kraft haben, rational gesehen aber ein Sammelsurium an Fehlschlüssen, Denkfehlern und Fehlinformation sind. Nachfolgend einige meiner Lieblinge in dieser Kategorie der schlechten Kapitalismuskritikkritik.
1) Du benutzt doch ein iPhone!
Ach so, du kritisierst etwas an Kapitalismus — aber benutzt du nicht einen Computer, der von einem kapitalistischen Unternehmen hergestellt wurde? Trägst du nicht Schuhe, die ein kapitalistischer Sportartikelhersteller anbietet? Kochst du nicht Essen, das du in einem kapitalistischen Supermarkt gekauft hast?
Wer etwas an Kapitalismus kritisiert, findet sich ziemlich schnell mit dem Vorwurf der Heuchelei konfrontiert — du kritisierst Kapitalismus, geniesst aber offenbar gerne dessen Früchte. Erwischt!
Diese Kritik ist gleichermassen doof wie logisch unsinnig. Warum, fasst ein wunderbarer Comic von Matt Bors zusammen:
Kapitalismus ist ein gesellschaftliches Totalphänomen. Als Menschen, die in der heutigen Gesellschaft existieren, können wir darum gar nicht nicht am kapitalistischen Wirtschaftskreislauf teilnehmen. Es gibt überhaupt kein Szenario, in dem wir uns als Individuen der gesellschaftlichen Realität entziehen und Kritik “von aussen” äussern könnten. Das ist aber natürlich keine Delegitimierung der geäusserten Kritik. Eher im Gegenteil: Gerade der Umstand, dass wir alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sind, sollte uns motivieren, den Status Quo zu hinterfragen und verbessern zu wollen.
Ein weiterer Aspekt, der mit dem Totschlagargument der angeblichen Heuchelei vergessen geht: Kapitalismuskritik bedeutet nicht eine totale Dämonisierung und Ablehnung aller Dinge, die unter kapitalistischen Wirtschaftsbeziehungen entstehen. Sogar Karl Marx hat sehr Vieles am Kapitalismus gelobt. iPhones oder so etwas wie iPhones sind in der Tat richtig cool. Es wäre halt moralisch einfach wünschenswert, wenn die mit ihnen verbundenen Wertschöpfungsketten anders funktionieren würden.
2) Dann geh’ doch nach Nordkorea!
Kritik an Kapitalismus weckt gewisse Assoziationen: Gab und gibt es nicht Länder, die auch irgendwie gegen Kapitalismus waren? Zum Beispiel die Sowjetunion, Kuba, Nordkorea? Wer Kapitalismus kritisiert muss offenbar bekloppt sein und sich solche Diktaturen wünschen. Verrückt, oder? Die Antwort auf alle Kritik am Kapitalismus ist darum klar: Moskau, einfach!
Dass Kapitalismuskritik im ersten Moment und rein emotional mit Regimen, die sich “kommunistisch” nannten oder nennen, in Verbindung gebracht wird, ist nachvollziehbar. Schliesslich hat sich der Ostblock in den Zeiten des kalten Krieges ganz explizit als “kommunistische”, marxistisch-leninistische Alternative zu westlichen kapitalistischen Gesellschaften positioniert. Wenn diese spontane Assoziation dann aber über den ersten Moment hinaus als ernstgemeinte Kritik an Kapitalismuskritik geäussert wird, haben wir es mit blanker Denkfaulheit zu tun.
Wenn ich argumentiere, dass X (zeitgenössischer Kapitalismus) ein Problem ist, bedeutet das nicht, dass ich damit auf irgendeine Art für Y (marxistisch-leninistische Diktaturen) plädiere. Das ist ein banaler non sequitur. Wenn ich X als Problem anspreche, ist mein Ziel, dass wir X als Problem anerkennen und uns überlegen, wie wir X lösen können. Mit Y hat das nix zu tun.
3) Kapitalismus hat viele Menschen aus der Armut geholt
Die vielleicht interessanteste ad hoc-Kritik an Kapitalismuskritik ist das Argument, dass Kapitalismus die Welt doch offensichtlich besser gemacht hat; etwa, indem er viele Millionen von Menschen aus der Armut gehoben hat. Das ist eine argumentative Perle, die wie ein Kuchen mehrere Schichten an fehlerhaftem Denken beinhaltet.
Erstens wiederholt sich hier der Irrglaube, Kapitalismuskritik impliziere, dass alles an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung schlecht war und ist. Dem ist nicht so. Zum Beispiel bedeutete der Zerfall der alten feudalen Gesellschaftsordnung und das Aufbrechen ihrer sklerotischen wirtschaftlichen und sozialen Strukturen durch Kapitalismus und kapitalistische Logiken selbstverständlich grossen positiven Fortschritt. Aber der Verweis darauf, dass Kapitalismus positive Effekte zeitigte, obwohl die Kritik auf spezifische negative Effekte abzielt, ist schlicht ein Red Herring-Fehlschluss, ein argumentatives Ablenkungsmanöver: Ich kritisiere X und jemand erwidert, dass Y doch gar nicht so schlimm ist. Das ist in etwa so, wie wenn ich ein Auto kaufe und mich beim Verkäufer beklage, dass das Lenkrad abgefallen ist — und der Verkäufer darauf meint, dass die Räder doch tiptop in Ordnung sind. Nur weil am Kapitalismus gewisse Dinge positiv waren oder sind, ist das keine Widerlegung von Kritik, die sich gegen etwas anderes richtet.
Zweitens ist dieses Armuts-Totschlagargument nicht nur ein Red Herring-Fehlschluss, sondern für sich genommen auch ziemlich undifferenziert. Zum Beispiel müsste man sich konsequenterweise auch fragen, welche Rolle denn der Kapitalismus bei der Erschaffung globaler Armut gespielt hat, etwa in Form kolonialistischer Ausbeutung. Auch wäre weiter zu überlegen, wie sehr wirklich Kapitalismus an sich Armut reduziert hat und ob nicht doch eher quasi-antikapitalistische Massnahmen wie sozialstaatliche Reformen und internationale Menschenrechtsabkommen eine Rolle gespielt haben. Zudem wäre es nicht zuletzt angebracht, einfach Mal kritisch zu reflektieren, was sich in Sachen Armut denn wirklich so getan hat. Schaut man sich beispielsweise Daten der Weltbank an, zeigt sich, dass der Grossteil der weltweiten Armutsreduktion der letzten rund 40 Jahre auf China zurückzuführen ist — im Rest der Welt sieht es nicht gar so rosig aus; besonders nicht, wenn wir nicht ausschliesslich auf den willkürlichen Wert von 1.90 US-Dollar pro Tag als relevante Armutsgrenze fixiert sind (Mit der Coronavirus-Pandemie verschlechtert sich das gesamte Bild noch zusätzlich und rasant):
Und drittens könnte man die alberne Red Herring-Spielerei auch ziemlich einfach umdrehen. Zum Beispiel: Auch heute noch sterben rund 9 Millionen Menschen an Hunger und Hunger-bezogenen Gebrechen — und zwar jedes Jahr. Wenn Kapitalismus so toll ist, warum lässt er jedes Jahr Millionen von Menschen verhungern? Schachmatt!
Zusammengefasst: Das Totschlagargument, dass Kapitalismus doch so viele Menschen aus der Armut geholfen habe, ist ein argumentatives Ablenkungsmanöver, das die eigentliche Kritik, die geäussert wird, nicht entkräftet — auch wenn Sachverhalt Y gut sein mag, sagt das nichts darüber aus, wie es mit dem angeprangerten Sachverhalt X aussieht.
4) Ohne Kapitalismus kein Markt
Wer Kapitalismus kritisiert, will Marktwirtschaft abschaffen und zentralisierte Planwirtschaft einführen. Weil, die kommunistischen Regime, die es gab, hatten ja Planwirtschaft. Dieser Vorwurf ist ein ziemlich fundamentales Missverständnis — und demonstriert, dass viele Leute überhaupt nicht verstehen, was Kapitalismus ist.
Kapitalismus und Marktwirtschaft sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe. Kapitalismus bedeutet, dass die Mittel der Produktion in privatem Besitz sind und die zu maximierenden Profite den Besitzerinnen und Besitzern zugutekommen. Marktwirtschaft ist ein wirtschaftliches Arrangement, in dem Entscheidungen bezüglich Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen anhand der Dynamiken von Angebot und Nachfrage der an den jeweiligen Transaktionen unmittelbar involvierten Akteure reguliert werden.
Marktwirtschaft gab und gibt es grundsätzlich ganz ohne Kapitalismus. Menschen haben sich während Tausenden von Jahren in Märkten organisiert, um Güter und Dienstleistungen auszutauschen, ganz ohne Kapitalismus. Kapitalistische Unternehmen sind erst vor rund 300 Jahren dazugekommen. Auch heute noch sind noch viele Anbieter von Gütern und Dienstleistungen nicht kapitalistisch, sondern marktsozialistisch organisiert: Einzel- und Kleinstunternehmen ohne Angestellte; Kooperativen; Genossenschaften; Nonprofit-Organisationen; Staatsunternehmen.
Kritik am Kapitalismus ist nicht automatisch Kritik an Marktwirtschaft. Wer glaubt, dass dem so sei, versteht beides nicht.
5) Ohne Kapitalismus keine Wirtschaft
Es gibt ein beliebtes Klischee über Leute, die etwas am Kapitalismus auszusetzen haben: Das sind doch irgendwie so “Hippies”, die nicht arbeiten wollen und stattdessen nur von Luft und Liebe leben möchten. Privilegierte Nichtsnutze, die nicht verstehen, wie die Realität funktioniert.
Nun gut, solche Leute gibt es vielleicht. Aber zu glauben, dass Kapitalismuskritik grundsätzlich eine Abkehr von wirtschaftlicher Aktivität, also von dem Bereitstellen von Gütern und Dienstleistungen, die menschliche Bedürfnisse befriedigen, und stattdessen irgendeine Art romantischen Primitivismus bedeutet, ist Quatsch. Der Grossteil von Kapitalismuskritik hat zum Ziel, wirtschaftliche Verhältnisse zu verändern und sie in moralischer Hinsicht zu verbessern; nicht, sie komplett abzuschaffen.
6) Ohne Kapitalismus keine Innovation
Eines der Argumente, das ich persönlich am häufigsten höre, wenn ich mich in Diskussionen rund um Probleme des Kapitalismus befinde, ist die oft wie aus einer Pistole geschossene Behauptung, dass wir den heutigen Kapitalismus brauchen, weil es ohne ihn keine Innovation gibt. Dieses Argument mag auf den ersten Blick emotional überzeugend wirken, aber es beinhaltet mehrere Missverständnisse und Denkfehler.
Menschen gibt es seit rund 300’000 Jahren, und mit der neolithischen Revolution vor rund 12’000 Jahren fiel der Startschuss für die heutige menschliche Zivilisation (Damals begann die Menschheit, sesshaft zu werden und Landwirtschaft zu betreiben.). Kapitalismus ist erst seit rund 300 Jahren das dominante Wirtschaftsmodell unserer Zivilisation. Ernsthaft zu glauben, dass es in der 300’000-jährigen Geschichte der Menschheit und der 12’000-jährigen Geschichte unserer modernen Zivilisation bis vor rund 300 Jahren keine Innovationen und Fortschritt gab, ist schlicht wahnsinnig.
Hier könnte man mit einer abgeschwächten Version des Argumentes kontern: OK, Innovation und zivilisatorischen Fortschritt gab es über die Jahrtausende, aber in der Zeit des Kapitalismus verdichtet sich der Fortschritt — in den letzten paar Jahrhunderten ist, relativ gesehen, viel mehr passiert als in den Jahrhunderten und Jahrtausenden zuvor. Diese Annahme ist empirisch nicht ganz einfach zu prüfen, aber ich persönlich glaube durchaus, dass sich unsere Welt in der jüngeren Geschichte der letzten rund 200 Jahre so massiv wie nie zuvor und oft zum Guten verändert hat. Haben wir das dem Kapitalismus zu verdanken? Ein gutes Stück weit durchaus! Wie bereits Marx betonte haben die Logiken und Anreizstrukturen des Industriekapitalismus die industrielle Revolution ermöglicht — eine solche industrielle Revolution wäre im Feudalismus undenkbar gewesen.
Doch bedeutet das, dass der gesamte Fortschritt, den wir in den letzten rund 200 Jahren erleben durften, einzig durch kapitalistisch organisierte Unternehmen ermöglicht und realisiert wurde? Natürlich nicht. Diese Periode der jüngeren Geschichte markierte auch eine wissenschaftliche Revolution. Wissenschaft ist zu einer rationalen Erkundung der Realität gereift, was uns seither Unmengen an technologischen Verbesserungen des Lebens beschert hat. Egal, ob Impfungen, die grüne Revolution, Elektrizität, Antibiotika, Gentechnik, Rumfahrt, das Internet, Smartphones, künstliche Intelligenz: Wissenschaft ist die Grundlage zahlreicher, wenn nicht gar praktisch aller Innovationen, die wir in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten erlebt haben. Die Errungenschaften der Wissenschaft erleben wir in der Praxis oft in Form privatwirtschaftlich-kapitalistischer Produkte und vergessen, woher die Grundlagen für diese stammen. Ein gutes Beispiel hierfür sind Impfungen gegen das SARS-Cov-2-Virus in der Coronavirus-Pandemie. Die Impfungen werden von privaten, profitorientierten, kapitalistischen Unternehmen wie Pfizer, Moderna, AstraZeneca und anderen bereitgestellt. Aber die wissenschaftlichen Grundlagen zum Beispiel für die neuartigen mRNA-Impfungen wurden durch jahrzehntelange öffentlich finanzierte Forschung erarbeitet. Mehr noch: Die unmittelbare Herstellung und Prüfung der Impfstoffe in der Pandemie wurde ebenfalls öffentlich finanziert, mit über 12 Milliarden Dollar.
Einer der Gründe, warum Menschen an den Mythos, nur mit Kapitalismus gebe es Innovation, glauben, dürfte das Verwechseln von Wettbewerb mit Kapitalismus sein. Wettbewerb zwischen Unternehmen, so die These, führe zu verbesserten oder neuen Produkten und Dienstleistungen, weil ökonomischer Druck besteht, sich mittels Innovation von der Konkurrenz abzuheben. Diese These ist nicht ganz unplausibel — aber sie hat für sich genommen nichts mit Kapitalismus zu tun (siehe Punkte 4 und 5). Mehr noch: In der heutigen Ära des Investorenkapitalismus wird unternehmerischer Wettbewerb immer stärker ad absurdum geführt. Investoren verzerren Wettbewerb nämlich massiv, indem sie Unternehmen mit Investitionen künstlich aufblasen und am Leben erhalten, um dadurch nicht zuletzt kleinere und besser operierende Konkurrenz vom Markt zu drängen. In der Ära des Investorenkapitalismus zählt oft genau das Gegenteil von Innovation.
7) Ohne Kapitalismus keine freie Auswahl
Kapitalismus bedeutet, dass wir in den Supermarkt gehen und dort richtig viel Auswahl haben: Unzählige Sorten Joghurt, Brot, Fruchtsaft, Frühstücksflocken, Zigaretten, und so fort. Ohne Kapitalismus haben wir solche Auswahl nicht mehr; nicht nur im Supermarkt, sondern ganz allgemein als Konsumentinnen und Konsumenten. Oder?
Die Metapher der übervollen und kunterbunten Regale im Supermarkt ist ein altbekanntes Sinnbild für die vermeintliche Vorzüge des Kapitalismus. In historischer Hinsicht mag daran grundsätzlich etwas dran sein. Experimente zentralisierter Planwirtschaften haben bei ganz unterschiedlichen Produkten in der Regel weniger Vielfalt als marktwirtschaftliche Systeme erschaffen, und bei bestimmten Gütern herrschte Knappheit, weil Signale über die tatsächliche Nachfrage nicht berücksichtigt wurden. Doch das hat nicht zwingend etwas mit Kapitalismus, sondern eher mit dem Kontrast zwischen Plan- und Marktwirtschaft zu tun. In planwirtschaftlichen Systemen fehlen Signale und Wechselwirkungen von Angebot und Nachfrage, und die Komplexität der notwendigen planwirtschaftlichen “top down”-Modellierung, um wirtschaftliche Güter adäquat herzustellen, ist enorm hoch. In marktwirtschaftlichen Systemen hingegen können sich Angebot und Nachfrage organisch(er) entfalten, was in der Praxis bedeutet, dass Güter und Dienstleistungen oft effizienter und effektiver bereitgestellt werden können.
Weil es in marktwirtschaftlichen Systemen zudem in der Regel mehr und natürlichere Konkurrenz gibt, haben wir in der Folge oft auch mehr Auswahl. Mit Kapitalismus hat diese Auswahl aber grundsätzlich wenig zu tun. In Tat und Wahrheit kann kapitalistische Marktwirtschaft sogar zu eher weniger als zu mehr Auswahl führen. So befindet sich die globale kapitalistische Wirtschaftsmacht grossmehrheitlich in der Hand einiger weniger Finanzunternehmen. Die heutige Vielfalt, im Supermarkt und anderswo, ist oftmals nur vordergründig, denn die kapitalistischen Besitzstrukturen dahinter sind enorm konzentriert. Wir können zwischen zwanzig Joghurtsorten auswählen, aber die Profite fliessen in dieselbe Tasche.
Darüber hinaus und ganz allgemein ist “freie Auswahl” für sich genommen nicht a priori gut. Zum Beispiel ist das System der Gesundheitsversicherung in den USA mehrheitlich privatwirtschaftlich und kapitalistisch organisiert; es gibt eine sehr grosse Auswahl an Anbietern von Gesundheitsversicherungen. Der Markt ist “dynamisch” mit reichlich Konkurrenz und Hunderten von Produkten. Das müsste eigentlich bedeuten, dass Gesundheitsversorgung in den USA richtig gut funktioniert. Doch das tut sie nicht, denn Versicherungsprämien und der Selbstbehalt im Krankheitsfall fallen bei allen Anbietern ziemlich hoch aus. Diese hohen Gesundheitskosten treiben jährlich über eine halbe Million Amerikanerinnen und Amerikaner in den privaten Bankrott. Würden die USA diesen kapitalistisch organisierten Gesundheitsversicherungs-Markt durch eine einheitliche öffentliche Gesundheitsversorgung ersetzen, würden über 60’000 Menschenleben gerettet, und es würden insgesamt rund 450 Milliarden Dollar an Gesundheitskosten eingespart — und zwar beides pro Jahr.
Kapitalismus führt weder automatisch zu mehr Auswahl, noch ist mehr Auswahl automatisch besser, um Bedürfnisse wie Grundgüter des täglichen Lebens zu befriedigen.
8) Ohne Kapitalismus keine Demokratie
In einem 1989 veröffentlichten Aufsatz fragte der Historiker und Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, ob wir das Ende der Geschichte erreicht hätten. 1992 legte Fukuyama ein Buch nach, in dem die noch halbwegs bescheidene Frage nach dem Ende der Geschichte zu einer recht sicheren Deklaration wurde. Mit dem Zerfall der Sowjetunion, so Fukuyamas Kernargument, hätten die grossen ideologischen Entwicklungen der Menschheitsgeschichte ein Ende gefunden. Die Kombination liberaler Demokratie mit kapitalistischer Marktwirtschaft sei der Endzustand der politischen Evolution der Menschheit.
Natürlich war es immer schon lachhaft, das “Ende der Geschichte” auszurufen — besonders, wenn das vermeintliche Ende, also die Kombination liberaler Demokratie mit kapitalistischer Marktwirtschaft, ein junges, nicht Mal 100 Jahre altes Phänomen ist (Die menschliche Zivilisation ist, wie ich oben bei Punkt 6 bemerke, rund 12’000 Jahre alt; die Menschheit könnte, wenn wir die Lebenszeiten von Säugetier-Spezies als Anhaltspunkt nehmen, ohne Weiteres noch über 500’000 Jahre weiterexistieren.). Wenn wir von der Ende der Geschichte-Hybris Mal absehen, fällt aber auf, dass die Kombination von Demokratie und Kapitalismus historisch gesehen durchaus gehäuft auftritt. Könnte es sein, dass Demokratie und Kapitalismus irgendwie zusammenhängen?
In philosophischer Hinsicht sind Demokratie und Kapitalismus unabhängige Konzepte. Demokratie meint im weitesten Sinn eine Form kollektiver politischer Entscheidungsfindung, bei der alle beteiligten Individuen gleichberechtigt sind. Eine demokratisch organisierte Gesellschaft entscheidet demgemäss auch frei, wie sie ihre wirtschaftlichen Aktivitäten organisieren will. Einen kausalen Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Demokratie gibt es dabei nicht: Es ist im Prinzip nicht undemokratisch, Kapitalismus stärker zu regulieren und teilweise oder sogar ganz zu unterbinden. Hier könnte man einwenden, dass Regulierung oder Unterbindung kapitalistischer Wirtschaftsaktivität illiberal, also freiheitsreduzierend sei. Das stimmt, aber Einschränkungen von Freiheiten gehören zum Wesen der Demokratie. Zum Beispiel verbieten demokratische Länder Sklaverei und Kinderarbeit. Derartige Verbote sind auch eine Einschränkung wirtschaftlicher Freiheiten, die aber moralisch durchaus gerechtfertigt sind, weil damit viel Leid verhindert wird.
Wenn Demokratie also nicht zu Kapitalismus führen muss, könnte es einen umgekehrten Zusammenhang geben? Könnte Kapitalismus zu Demokratie führen?
In rein chronologischer Hinsicht waren viele westliche Länder zunächst kapitalistisch, um später demokratische Reformen durchzumachen. Kapitalismus kam oft vor Demokratie. Ist das möglicherweise ein Hinweis auf einen kausalen Zusammenhang? In der sogenannten Modernisierungstheorie gibt es die Hypothese, dass zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Demokratisierung ein Zusammenhang bestehen könnte: Wenn die materiellen Bedingungen für einen Grossteil der Bevölkerung genug gut werden, wandeln sich Werte zwischen den Generationen. Eine Generation, die Krieg und Hunger erlebt hat, priorisiert Grundbedürfnisse wie Stabilität und Ernährungssicherheit. Die nachfolgende Generation, die in besseren materielle Bedingungen aufwächst, dürfte im Sinne der Maslow’schen Bedürfnispyramide tendenziell auch mehr Gewicht auf abstraktere Werte wie Selbstverwirklichung legen. Oder, anders ausgedrückt: Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral.
Die Modernisierungsthese ist zwar plausibel, aber gleichzeitig ist sie auch sehr umstritten. Nicht zuletzt, weil die jüngere Geschichte sie zu widerlegen scheint, wie nicht zuletzt das Beispiel China demonstriert. China hat in den letzten rund 30 Jahren eine grosse kapitalistische Transformation und wirtschaftliches Wachstum durchgemacht, aber die erhoffte Demokratisierung hat nicht stattgefunden. Chinas autoritäres Regime unterbindet Freiheiten heute mindestens so stark wie vor den kapitalistischen Reformen.
Auch wenn die Modernisierungsthese empirisch auf weniger wackeligen Füssen stünde, wäre sie kein Beleg für eine kausale Notwendigkeit des Kapitalismus für die Demokratie. Erstens können sich materielle Umstände auch ohne Kapitalismus verbessern, und zweitens gibt es keinerlei Hinweise, dass eine kapitalistische Gesellschaft, welche sich demokratisiert hat, an Demokratie einbüsst, wenn sie Kapitalismus reguliert oder unterbindet. Ganz im Gegenteil: Demokratische Länder haben in den letzten Jahrzehnten die Interessen des Kapitals mit einer ganzen Reihe sozialstaatlicher Reformen untergraben (Sozialversicherungen, Altersrenten, Umverteilung von Reichtum, Arbeitnehmerrechte, usf.), und in derselben Zeit hat Demokratie z.B. durch Ausweitung von Stimm- und Wahlrechten und durch mehr Gleichberechtigung für Angehörige von Minderheiten an Qualität gewonnen, nicht verloren.
Fazit: Reflexe gegen unbequeme Wahrheiten
Was nehmen wir aus der Diskussion schlechter Kapitalismuskritikkritik mit?
Es ist nachvollziehbar, dass Menschen oft instinktiv jede Kritik an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ablehnen. Wir leben alle im Kapitalismus und kennen gar nichts anderes, und wir sind Opfer jahrzehntelanger neoliberaler ideologischer Berieselung, die uns weismachen will, dass wir die Interessen des Kapitals um jeden Preis zu verteidigen haben. Reflexartige Totschlagargumente sind ein wunderbares Mittel, um kognitive Dissonanzen zu tilgen: Vielleicht ist an der jeweiligen Kritik des Status Quo ja etwas dran, aber es darf ja nichts dran sein. Darum packen wir den stumpfen pro-kapitalistischen Zweihänder aus und mähen alles nieder, was uns zum Grübeln und zum Hinterfragen unserer Überzeugungen bewegen könnte.
Die weltanschauliche Brille, mit der wir mehr oder weniger zur Welt gekommen sind, abzulegen, ist schwierig. Aber genau das müssen wir wagen, wenn wir uns ernsthaft und rational der Frage widmen wollen, welchen Fortschritt wir wollen und, wie wir ihn erreichen. Und ja, es ist OK und kein Widerspruch, wenn uns iPhones dabei helfen.