Trump erklärt Europa zum Feind
Die Annexion Grönlands ist ein Vorbote des bevorstehenden Chaos.
Hätte mir jemand vor zehn Jahren gesagt, dass die USA sich auf die Seite von Wladimir Putin schlagen und Europa mit einer militärischen Invasion drohen, hätte ich wohl lachen müssen. Aber das ist genau der surreale Moment, in dem wir uns befinden.
Donald Trumps Regierung droht, dass Grönland bald von den USA annektiert wird. Egal, was Dänemark, Europa oder die Menschen auf Grönland davon halten. Wenn nötig, wird Grönland mit Gewalt zu amerikanischem Territorium gemacht.
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Grönland ist ein autonomes Gebiet von Dänemark. Dänemark ist eines der Gründungsmitglieder der NATO und jahrzehntelanger Verbündeter der USA. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA wurde zum ersten und bisher einzigen Mal der NATO-Bündnisfall ausgerufen. Dänemark zog damals mit den USA in den Afghanistan-Krieg. Diese lange und enge Partnerschaft wurde von Trump und seinem Kabinett innerhalb von Wochen ins Gegenteil gekehrt: Offene Feindschaft.
Man wähnt sich in einer grotesken Spiegelwelt. Trump macht den Schulterschluss mit dem Diktator Wladimir Putin und erklärt stattdessen Europa und der NATO den imperialistischen Kampf. Die aktuelle Entwicklung ist aber mehr als nur eine tagesaktuelle Kuriosität. Sie ist Vorbote einer neuen Weltordnung, die von Chaos und Leid geprägt sein wird.
Enthemmte Propaganda
Ich habe die Monate und Jahre nach den 9/11-Terroranschlägen miterlebt. Die Propaganda in dieser Zeit war intensiv. Der “Krieg gegen den Terror” riss alle Schranken der Vernunft und des internationalen Rechts nieder. Überall wähnte man Terrorismus. Darum musste man ihn überall bekämpfen. Nicht zuletzt im Irak, wo Saddam Hussein angeblich etwas mit Al Qaida zu tun hatte und dessen Massenvernichtungswaffen angeblich eine Bedrohung für Washington und New York seien. Die Irak-Invasion, die in eine beispiellose Propagandakampagne eingebettet war (die Bush-Regierung sprach schon bald nach 9/11 kaum noch über Osama bin Laden und rückte stattdessen Saddam Hussein ins mediale Rampenlicht), entwickelte sich zu einem globalen Mega-Debakel mit rund einer Million Toten.
Die Propaganda von damals wirkt im Vergleich zur aktuellen Propaganda der Trump-Regierung geradezu harmlos. Nicht, weil die Konsequenzen damals harmlos waren; das waren sie natürlich nicht. Die aktuelle Propaganda hat aber eine neue, zelebriert brutale Qualität. Fox News, damals wie heute das zentrale Sprachrohr der Republikanischen Partei, stimmt die amerikanische Bevölkerung auf die Annexion Grönlands ein. Jesse Watters, Kommentator in der Hauptsendezeit, erklärte, dass sich die USA Grönland einfach nehmen werden. Wenn nötig mit Gewalt. Damals habe es bei Japan ja auch geklappt, als die USA zwei Atombomben auf das Land abwarfen.
Diese Art der Propagandisierung ist in ihrer Rohheit bemerkenswert. Es gibt gar keinen Vorwand, keine Erklärung, keine Begründung, um das Vorgehen irgendwie plausibel wirken zu lassen. Es gibt kein Narrativ der Notwendigkeit oder der noblen Absicht; egal, wie dünn und fadenscheinig es auch sein mag. Nein. Die einzige Botschaft ist: Trump nimmt sich, was er will. Wer ihm im Weg steht, wird ausgelöscht.
Die europäischen Staaten mögen in den amerikanischen Expansionsplänen eine (existenzielle) Bedrohung ihrer Sicherheit sehen. Zumindest einen Anhänger hat Trump bei seinen Annexionsplänen aber: Wladimir Putin. Putin hat ausführlich erklärt, dass er die Annexion Grönlands durch die USA akzeptiert und dass das nichts mit Russland zu tun habe. Putin profitiert doppelt. Einerseits zerschlägt Trump die amerikanische Allianz mit Europa — und schafft damit die multipolare Welt, die sich der russische Diktator seit Langem wünscht. Andererseits zerschlägt Trump damit auch internationales Recht. Imperialismus wird wieder salonfähig. Wenn grosse Staaten kleine erpressen und überfallen, ist das halt so. Die eine imperialistische Hand wäscht die andere.
Warum?
Es ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht eindeutig, was mit Grönland geschehen wird. Die Wahrscheinlichkeit für eine direkte Annexion durch die USA ist hoch. Unabhängig davon, was der genaue Ausgang der Grönland-Krise sein wird, stellt sich aber eine grundlegende Frage: Warum? Warum macht die Trump-Regierung das? Warum zerstören sie die Allianz mit Europa und drohen einem NATO-Alliierten mit Krieg?
Rein strategisch macht das alles keinen Sinn. Die USA haben seit dem Zweiten Weltkrieg geopolitisches Interesse an der Insel — und setzen dieses kooperativ mit Dänemark in Form einer vertraglich geregelten militärischen Präsenz um. In einem Vertrag von 1951 wurde den USA das Recht gewährt, auf Grönland Militärstützpunkte zu unterhalten. Heute haben die USA zwar nur einen Stützpunkt, “Pituffik Space Base”, aber das war eine strategische Entscheidung der USA. Sie könnten, wie in der Vergangenheit, mehr militärische Präsenz auf Grönland haben. Das Abkommen zwischen Dänemark und den USA stand seitens Dänemark nie zur Debatte. Alle plausiblen sicherheitspolitischen Ziele, die die Trump-Regierung für Grönland haben könnte, liessen sich auch ohne Annexion umsetzen.
Es geht um etwas Anderes, etwas Banaleres. Das Trump-Kabinett besteht aus einer Ansammlung ideologischer Eiferer, die ganz unumwunden nackten Imperialismus wollen. Sie wollen Grönland einnehmen, um von den Öl- und Gasvorkommen und sonstigen Bodenschätzen zu profitieren. Um neue Schifffahrtskorridore, die sich im Zuge der Erderwärmung öffnen, zu kontrollieren.
Es geht auch darum, an Grönland ein Exempel zu statuieren. Grönland soll fallen, wenn nötig mit Gewalt, um eine neue Weltordnung einzuläuten. Es gibt keine Regeln mehr, es gibt kein Völkerrecht. Es gibt nur noch Faustrecht. Trump und Putin und Xi Jinping teilen sich die Welt untereinander auf, wie es ihnen beliebt.
Das Zeitalter des Chaos
So sehr mir das unmittelbare Schicksal der Menschen auf Grönland, in Dänemark und in ganz Europa am Herzen liegt: Das Wichtige an der angekündigten Annexion Grönlands ist nicht nur die Annexion an sich. Es ist die Frage, was für weiterführende Folgen die Annexion haben wird. Welche Kette an Dominos dadurch umzufallen droht.
Wenn ich mir Gedanken zur Gegenwart mache, ist meine grundsätzliche analytische Perspektive die mittel- bis langfristige Zukunft. Die Zukunft des jeweils betroffenen Systems, der Gesellschaft, aber auch und vielleicht vor allem: Der Menschheit. Mein Fokus gilt dabei moralisch positivem Fortschritt. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass möglichst viele Menschen möglichst lebenswerte Leben leben können. Auch wenn ich wie in diesem Newsletter tagesaktuelle Ereignisse analysiere, interessieren mich primär die “Downstream”-Effekte von Ereignissen. Die nachgelagerten Konsequenzen von Veränderungen. Der manchmal sehr lange Schatten, den aktuelle Ereignisse in die Zukunft werfen.
Trumps Annexion von Grönland wird einen solchen langen Schatten in die Zukunft werfen. Die Annexion ist die Ankündigung von Chaos, das viel Leid verursachen wird. Die Welt steht vor so vielen so umfassenden Herausforderungen und Risiken wie noch nie in der Geschichte der Menschheit. Künstliche Intelligenz, Klimawandel, Pandemien, Biotechnologie, um nur einige zu nennen. Diese Kategorie systemischer Probleme gefährdet das Fortbestehen unserer Zivilisation. Die einzige Chance, die wir haben, die systemischen Risiken in den Griff zu bekommen, ist regel- und rationalitätsbasierte globale Kooperation. Trump und seine Truppe zerschlagen gegenwärtig die letzten Überbleibsel solcher Kooperation.
Natürlich war die Welt vor Trumps zweiter Amtszeit kein Paradies der friedlichen und vernunftgeleiteten Kooperation. Ganz und gar nicht. Es gab in der jüngeren Geschichte aber Hoffnungsschimmer einer kollektiven Problemlösungsfähigkeit im Lichte globaler Herausforderungen. Wir haben erfolgreich die Pocken ausgerottet. Wir haben erfolgreich das Ozonloch in den Griff gekriegt. Es ist grundsätzlich möglich, grosse kollektive Probleme kooperativ und nachhaltig zu lösen.
Das wirkt angesichts der aktuellen geopolitischen Konstellation fast wie ein verflogener Traum. Systemische Risiken abzubauen bedeutet, dass auch Akteure, die überproportional viel Macht haben, sich bereit erklären, gewisse ökonomische oder strategische Einbussen hinzunehmen, obwohl sie niemand dazu zwingen kann. Diese Bereitschaft ist nun mit Trump Geschichte. Ersetzt wird sie durch blosse “Hard Power”, durch das Recht des Stärkeren. So lösen wir aber keine systemischen Probleme, sondern beschleunigen sie. Die kommenden Jahre werden eine “Tragik der Allmende” im Zeitraffer.
Vielleicht reisst sich Europa soweit zusammen, dass es den USA, Russland und China zumindest ein Stück weit die Stirn bieten kann. Aber das wird am eigentlichen Problem, der in die Brüche gegangenen globalen Kooperationsfähigkeit, nichts verändern. Die multipolare Welt, die sich Putin lange wünschte, hat Trump nun endgültig zur Tatsache gemacht. Die Würfel sind gefallen. Wir sind alle Grönland.