Was, wenn sie doch recht haben? Egal.
Verschwörungstheorien könnten wahr sein. Aber darum geht es nicht.
Bill Gates will uns über Impfungen GPS-Chips einpflanzen. Covid-19 wird durch 5G-Mobilfunkantennen verursacht. Das Virus SARS-CoV-2 ist eine chinesische Biowaffe. Die Pandemie ist nur inszeniert, um eine globale Diktatur einzuführen.
In der Coronavirus-Pandemie ersticken wir regelrecht an Verschwörungstheorien. Wilde Mutmassungen und abenteuerliche Spekulationen, dass an der “offiziellen” Geschichte der Pandemie etwas faul sein muss und in Tat und Wahrheit dunkle Machenschaften hinter dem Ganzen stecken, verbreiten sich nicht zuletzt dank Social Media wie Lauffeuer (Wer hat in den letzten Monaten nicht mindestens das ein oder andere Verschwörungs-Meme auf WhatsApp weitergeleitet gekriegt?). Dass es zu dieser Explosion an Corona-Verschwörungstheorien kam, ist nicht grundsätzlich überraschend. In Krisenphasen boomen Verschwörungstheorien, weil wir uns in so akut ungewissen Zeiten nach klaren Antworten und dem Gefühl von Kontrolle sehnen.
Viele Verschwörungstheorien sind recht klar Humbug, für den wir bestenfalls ein müdes Lächeln übrig haben. Der Glaube beispielsweise, dass die Erde in Tat und Wahrheit flach sei und die US-Weltraumbehörde NASA uns darüber im Dunklen hält, ist trivial einfach widerlegbar. Doch die Situation ist nicht immer so offensichtlich schwarz-weiss. Der, wie ich es nennen will, erkenntnistheoretische Status so manch einer Verschwörungstheorie ist nicht ganz eindeutig. Nehmen wir als Beispiel die Behauptung, dass das Coronavirus in Tat und Wahrheit eine von Menschen erschaffene Biowaffe sei, die aus Versehen oder absichtlich freigelassen bzw. eingesetzt wurde.
Die aktuell vorhandene wissenschaftliche Evidenz deutet deutlich darauf hin, dass das Virus SARS-Cov-2 natürlichen Ursprungs ist, weil das Virus früheren Coronaviren sehr ähnlich ist und Mutationen, wie sie SARS-Cov-2 aufweist, in der Natur vorkommen. Zudem ist die Vorstellung, dass das neue Coronavirus eine Biowaffe sei, recht unplausibel, weil der Schuss mit einer solchen Waffe zwangsläufig nach hinten losgehen würde (Eine Biowaffe, mit der man garantiert auch sich selber ansteckt, ist ziemlich nutzlos.). Die Evidenz sagt uns also, dass die Biowaffen-These mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch ist. Aber: Wir können nicht mit Sicherheit sagen, dass das neue Coronavirus keine Biowaffe ist. Gegeben der Evidenz ist die Wahrscheinlichkeit, dass das neue Coronavirus eine Biowaffe ist, zwar sehr klein, aber die Möglichkeit bleibt bestehen, weil wir den Ursprung von SARS-Cov-2 noch nicht lückenlos rekonstruiert haben. Die Biowaffen-These könnte sich in Zukunft also als wahr herausstellen.
Das Beispiel der Biowaffen-These zeigt uns, dass es Verschwörungstheorien gibt, die zwar unwahrscheinlich sind, die wir aber nicht lückenlos und zweifelsfrei widerlegen können. Diese Gruppe von Verschwörungstheorien ist eine Knacknuss: Es handelt sich zwar um sehr unwahrscheinliche Thesen, aber prinzipiell könnten sie eben doch wahr sein. Was sollen wir mit solchen Verschwörungstheorien machen? Wäre es angebracht, sie ernster zu nehmen, als wir es gemeinhin tun?
Auf den ersten Blick könnte man meinen, Ja. Schliesslich haben wir keine Gewissheit, dass an ihnen nicht doch etwas dran sein könnte. Aber darum geht es eigentlich gar nicht: Das Problem mit Verschwörungstheorien ist nicht die Frage, ob sie wahr oder falsch sind. Verschwörungstheorien sind ein Problem, weil sie irrational sind. Und eine Verschwörungstheorie würde auch dann irrational bleiben, wenn sie sich zu einem späteren Zeitpunkt als wahr herausstellt.
Verschwörungstheorien und epistemisches Glück
Wann gilt eine Überzeugung als irrational? In unserem Alltagsverständnis würden wir vielleicht sagen, dass eine Person dann irrational ist, wenn sie etwas glaubt, was falsch ist. Wenn ich beispielsweise glaube, dass die Erde flach ist, obwohl überwältigend viel wissenschaftliche Evidenz dafür spricht, dass sie nicht flach ist, bin ich irrational. Und das stimmt; in diesem Beispiel ist die betroffene Person irrational. Aber nicht in erster Linie, weil sie etwas Falsches glaubt — sondern, weil sie keine guten Gründe hat, zu glauben, was sie glaubt
In der Philosophie wird grob zwischen zwei Formen von Rationalität unterschieden: Instrumenteller und epistemischer Rationalität. Instrumentell rational sind wir dann, wenn wir so handeln, dass wir unsere Ziele maximal gut erreichen. Wenn ich zum Beispiel nach Los Angeles reisen will, mir aber ein Flugticket nach Tokyo kaufe, bin ich in instrumenteller Hinsicht recht irrational, weil ich meinem Ziel (in diesem Fall wortwörtlich) nicht wirklich näherkomme.
Epistemisch rational sind wir dann, wenn wir gute Gründe haben, zu glauben, was wir glauben. Oder anders ausgedrückt: Epistemisch rational sind wir dann, wenn die Stärke einer Überzeugung im Einklang mit der Stärke der für diese Überzeugung relevanten Evidenz ist. Epistemische Rationalität hat durchaus einen Bezug zur Wahrheit, denn im Normalfall hat ein höheres Mass an epistemischer Rationalität zur Folge, dass die Wahrscheinlichkeit, dass das, was wir glauben, der Realität entspricht, steigt. Aber die Annäherung an die Realität, also an die Wahrheit, ist nicht eine Bedingung für Rationalität, sondern die Konsequenz von Rationalität. Epistemische Rationalität ist so gesehen das Mittel zum Zweck, um möglichst genaue und möglichst präzise Überzeugungen über die Welt zu haben. (In der Erkenntnistheorie wird darum auch oft argumentiert, dass epistemische Rationalität letztlich auch eine Form instrumenteller Rationalität sei, weil wir mit epistemischer Rationalität das Ziel verfolgen, unsere Überzeugungen möglichst in Einklang mit der Realität zu bringen.).
Was bedeutet dieser theoretische Exkurs für Verschwörungstheorien? Das Problem mit Verschwörungstheorien ist nicht, dass sie unwahr sind. Verschwörungstheorien sind eine Klasse problematischer Überzeugungen, weil sie per definitionem epistemisch irrational sind: Wenn wir an eine Verschwörungstheorie glauben, tun wir dies ohne gute Gründe. Die Verschwörungstheorie mag sich in Zukunft vielleicht als wahr herausstellen, aber mein Glaube heute, dass sie wahr ist, ist schlecht begründet. Gehen wir kurz zum Beispiel von SARS-Cov-2 als Biowaffe zurück. Es ist grundsätzlich möglich, dass sich in Zukunft herausstellen wird, dass das neue Coronavirus in der Tat eine Biowaffe war. Aber aktuell spricht alle Evidenz, die wir haben, gegen diese These. Wenn wir an der These festhalten und ihr eine hohe Wahrscheinlichkeit zusprechen, obwohl sie gegeben der besten verfügbaren Evidenz und Argumente sehr unwahrscheinlich ist, sind wir epistemisch irrational.
Mit anderen Worten: Sollte sich in Zukunft zeigen, dass das neue Coronavirus doch eine Biowaffe war, macht das die Verschwörungstheorie über das Coronavirus als Biowaffe nicht rational. Wir hätten in diesem Fall lediglich etwas geglaubt, was sich zufälligerweise als wahr herausstellen sollte. Eine solche Konstellation — eine irrationale, da schlecht begründete Überzeugung, die zufällig wahr ist — ist lediglich eine Form von epistemischem Glück. Epistemisches Glück bedeutet, dass wir etwas glauben, was zwar wahr ist, wir für diesen Glauben aber keine guten, rationalen Gründe haben. Wir haben mit unserer Überzeugung einfach nur Glück. Ein triviales Beispiel: Hans ist überzeugt, dass die Erde nicht flach, sondern kugelförmig ist. Hans begründet diese Überzeugung mit dem Argument, dass in einer flachen Erde die Kobolde, die im Erdinneren leben, ja nicht genug Platz hätten.
Die Rationalität einer Überzeugung bemisst sich nicht an der Frage, ob sie wahr ist oder nicht. Eine Überzeugung ist dann rational, wenn gute Gründe vorliegen, die Überzeugung zu haben.
Der Galileo Gambit zieht nicht
Verschwörungstheoretikerinnen und -theoretiker — also Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben — verweisen gerne auf den Umstand, dass es in der Geschichte immer wieder Situationen gab, in denen die dominante Mehrheit der Gesellschaft die Meinung von Minderheiten unterdrückte: Neue Ideen und Erkenntnisse wurden über die Jahrhunderte immer wieder pauschal abgeschmettert und verboten, weil sie den Eliten und den Profiteuren des Status Quo ein Dorn im Auge waren. Das beste Beispiel ist Galileo Galilei, mutiger Vordenker, der es wagte, sich gegen die dominante Meinung zu stemmen — und dafür einen hohen Preis zahlen musste. Genauso verhalte es sich heute mit Verschwörungstheorien, die eben doch wahr sein könnten. Eppur si muove!
Dieses Motiv von David gegen Goliath hat eine starke persuasive Kraft. Es könnte ja doch was dran sein! In Tat und Wahrheit ist dieser Galileo Gambit aber nur ein rhetorischer Bluff, auf den vor allem die VerschwörungstheoretikerInnen selber reinfallen. Wer an Verschwörungstheorien glaubt, kann noch und nöcher darauf pochen, dass ihre Thesen am Schluss vielleicht doch wahr sein könnten und sie darum mutige Vordenkerinnen und Vordenker wie damals Galileo sind. Doch die Rollen sind in Wahrheit vertauscht: VerschwörungstheoretikerInnen halten wie damals die katholische Kirche an irrationalen Überzeugungen fest und lehnen Evidenz und Argumente, die ihre Weltsicht gefährden, kategorisch ab.
Galileo wird nicht gefeiert, weil er zufällig etwas geglaubt hatte, was sich als wahr herausstellte — sondern, weil er von Anfang an die besseren Argumente hatte.
Ein sehr guter Text. Danke.
Danke