Der 20. Januar 2021 war für Millionen von Anhängerinnen und Anhängern der QAnon-Verschwörungstheorie ein Schock. Ihr Messias, Präsident Donald Trump, verabschiedete sich sang- und klanglos aus dem Amt. Der erwartete “Sturm”, die grosse Säuberungsaktion gegen die pädophilen Linken und den Deep State, die Trump hätte durchführen sollen, blieb aus. Die Welt der QAnon-Jüngerinnen und -Jünger brach zusammen, und QAnon, die vielleicht folgenreichste Verschwörungstheorie aller Zeiten, starb einen plötzlichen Tod.
Oder vielleicht nicht ganz. Doch der Reihe nach.
4chan, pädophile Demokraten, Pizza: Das Vorwort zu QAnon
Im US-Präsidentschaftswahlkampf von 2016 — in der in Internetjahren prähistorischen Zeit, als eine Trump-Präsidentschaft bestenfalls noch als lustiger Witz galt — wurde John Podesta, Hillary Clintons Kampagnenmanager, gehackt. Die digitalen Angreifer schafften es mit einer nicht allzu komplexen Phishing-Attacke, sich Zugang zu Podestas Gmail-Konto zu erschleichen. Die Hacker erstellten digitale Kopien der vielen Tausenden von Emails in Podestas Postfach, um sie in der zweiten Jahreshälfte auf der Enthüllungsplattform WikiLeaks zu veröffentlichen. Das Timing war nicht zufällig. Die Emails sollten als ein “October Surprise”, als ein Skandal im Oktober kurz vor dem Wahltag im November, Staub aufwirbeln.
Ein grösserer politischer Skandal blieb aber aus. Die gehackten Emails zeigten zwar einen Blick hinter die Kulissen der Clinton-Dynastie, aber wirklich explosiv waren die Enthüllungen nicht (Dass Hillary Clinton eine superreiche und machthungrige Person ist, war schon vorher bekannt.). Insgesamt erwiesen sich die gehackten Emails bestenfalls als ein Sturm im Wasserglas. Doch nicht alle Clinton-Kritiker liessen sich so schnell entmutigen. Eine Gruppe an, nun ja, nennen wir sie Online-Detektiven, witterte, dass an der Geschichte mehr dran sein muss. Zwar enthielten die gehackten Emails keine offensichtlichen Beweise oder plausible Anhaltspunkte für kriminelle Handlungen. Aber die Emails, so ihre Überzeugung, müssten noch eine Art kriminellen Subtext enthalten. Ein düsteres Geheimnis, das sich zwischen den Millionen von Zeilen versteckt.
Schon bald gab es einen Heureka-Moment: User in einem Online-Diskussionsforum fanden Dutzende Emails, in denen die Rede von Pizza ist. Mal ging es um Pizza zum Lunch; Mal um eine Pizzaparty mit der Familie. Die Forumsnutzer kramten weiter in den gehackten Emails und fanden einen Austausch zwischen Podesta und dem Besitzer der Pizzeria Comet Ping Pong in Washington. Podesta wollte abklären, ob sich in dieser Pizzeria eine Spenden-Veranstaltung für die Clinton-Kampagne durchzuführen lässt.
Emails, in denen die Rede von Pizza ist, klingen auf den ersten Blick ziemlich banal. Doch die Forumsnutzer glaubten, hier ein schockierendes Muster aufgedeckt zu haben: Das Gerede von Pizzen war nur ein geheimer Code — in Tat und Wahrheit wurde hier die Vergewaltigung von Kindern besprochen. Warum? Zum Beispiel, weil das englische Word für Käsepizza, “Cheese Pizza”, die Initialen “CP” enthält. Also dieselben Initialen wie “Child Pornography”, Kinderpornografie. Comet Ping Pong, die Pizzeria in Washington, fungierte aus der Sicht der Forumsnutzer als Treffpunkt dieses Pädophilenrings, wo im Keller der Pizzeria eingekerkerte Kinder vergewaltigt werden.
Die Forumsnutzer tauften diesen unfassbaren Skandal “Pizzagate”.
All das klingt, wohlwollend gedeutet, ziemlich weit hergeholt. Betrachtet man aber, wo genau die Pizzagate-Verschwörungstheorie ihren Ursprung hatte, macht ihre Absurdität plötzlich wieder Sinn. Das Online-Forum, in dem die Nutzerinnen und Nutzer die Pizza-Enthüllungen machten, ist nämlich nicht irgendein stinknormales Forum. Nein, es handelt sich um das berüchtigte Imageboard 4chan — ein Kristallisationspunkt von Hass, Rassismus, Verschwörungstheorien und Meme-gewordenem Wahnsinn aller Art.
4chan zeichnet sich durch vier wesentliche Merkmale aus. Erstens sind die meisten Nutzer anonym, im Jargon “Anons” genannt. Zweitens kann eine Diskussion nur gestartet werden, indem man ein Bild postet; daher der Begriff “Imageboard”. Drittens ist auf 4chan so gut wie alles erlaubt; wüste Beleidigungen, krasser Rassismus, bizarre Lügen, noch bizarrere Verschwörungstheorien — praktisch alles geht (Die Moderatoren gehen nur gegen ganz direkt illegale Inhalte wie z.B. Pornografie mit Minderjährigen oder Kindern vor.). Und viertens regiert auf 4chan eine knallharte Aufmerksamkeitsökonomie. Wer eine erfolgreiche Diskussion starten will, muss möglichst provozieren und schockieren. Bestehende Diskussionen werden nämlich systematisch von neu gestarteten Diskussionen verdrängt; es sei denn, an der Diskussion beteiligen sich sehr viele sehr aktiv postende Nutzer. Damit eine Diskussion aktiv bleibt, möglichst viele Nutzer anzieht und im tosenden Fluss der neuen Diskussionen obenauf schwimmt, muss sie darum so krass wie nur möglich sein. Es gilt, Tabus zu brechen, haarsträubende Behauptungen zu machen, zu diffamieren, zu schockieren, zu belustigen, zu unterhalten. Je verrückter, desto besser.
Es ist keine Überraschung, dass eine so wahnsinnige Verschwörungstheorie wie Pizzagate ausgerechnet auf 4chan, einem Ort, an dem die Aufmerksamkeitsökonomie zu maximal viel Wahnsinn anreizt, das Licht der Welt erblickt hat. Von 4chan ist Pizzagate dann aber rasch auf andere Plattformen wie Reddit, Twitter, YouTube, Facebook und dergleichen diffundiert, um sich dort und von dort öffentlichkeitswirksam wie ein Lauffeuer zu verbreiten. Eine Story, die zu verrückt klingt, um nicht wahr zu sein.
Doch die Karriere von Pizzagate erlitt im Dezember 2016 einen grossen Dämpfer. Ein bewaffneter junger Mann und Pizzagate-Anhänger stattete Comet Ping Pong, dem angeblichen Pädophilie-Hotspot von Clinton und den Demokraten, einen Besuch ab, um die eingesperrten Kinder aus dem Keller zu befreien. Am Zielort angekommen, ballerte der vermeintliche Held in einem Akt der Selbstjustiz herum, um die Kriminellen zur Rechenschaft ziehen und die Kinder zu retten. Doch ziemlich schnell erwachte der Mann aus seiner Pizzagate-Trance: Von eingesperrten und misshandelten Kindern und deren Peinigern war in der Pizzeria keine Spur. Die Pizzeria hatte nicht Mal einen Keller, in dem Kinder hätten eingesperrt werden können.
Diese gleichermassen absurde wie gefährliche Befreiungsaktion eines Pizzagate-Verwirrten war zwar kein sofortiger Todesstoss für die Pizzagate-Verschwörungstheorie, aber Pizzagate erodierte in den nachfolgenden Wochen und Monaten stetig aus dem kollektiven Verschwörungs-Reservoir des Internets. Die Pizza wurde schnell kalt.
Schon bald aber sollte eine neue und viel folgenreichere Verschwörungstheorie das Erbe von Pizzagate antreten. Eine Verschwörungstheorie, die die Hauptmotive von Pizzagate — linke Politikerinnen und Politiker sind pädophile Kinderschänder — aufgreift und in eine neue Dimension des Wahnsinns katapultiert: QAnon.
QAnon: Der Phönix aus der Pizzagate-Asche
Anfang Oktober 2017 hielt Präsident Trump im Weissen Haus ein Abendessen für Militärangehörige ab. Beim Abendessen waren auch zahlreiche Journalistinnen und Journalisten dabei; der Anlass war eine eher biedere PR-Veranstaltung.
Bis Trump beim Posieren für Fotos in die Menge der versammelten Medienschaffenden fragte:
Do you guys know what this represents?
Ob sie wüssten, was das hier darstelle. “Tell us, sir”, sagen Sie es uns, die Antwort eines Journalisten. Darauf Trump:
Maybe it’s the calm before the storm.
Vielleicht ist es die Ruhe vor dem Sturm. Was denn der Sturm sei, fragte der Journalist nach. Trump wiederholte nur:
Could be. The calm. The calm before the storm.
The calm before the storm. Die Ruhe vor dem Sturm. Was hat Trump damit gemeint? Es dürfte rational gesehen ganz einfach eine saloppe, unüberlegte Äusserung gewesen sein, mit der Trump im Grunde gar nichts zum Ausdruck bringen wollte. Dafür ist Donald Trump letztlich bekannt: Er quatscht frei von der Leber und schwafelt wirres Zeug am laufenden Band. Meistens ergibt das, was er sagt, nicht viel Sinn, aber es ist emotional doch irgendwie packend. The calm before the storm ist in dieser Lesart einfach etwas, was Trump spontan in den Sinn kam. Er posiert an einem schicken Abendessen mit Militärangehörigen, und das Militär kann ja auch ganz anders. Das ist imposant, und Trump wenn Trump etwas gerne hat, ist es, Stärke und Maskulinität zu projizieren.
Aber was, wenn The calm before the storm doch mehr als ein banaler Trump’scher non sequitur wäre? Wenn Trump damit in Tat und Wahrheit etwas ganz Bedeutendes, ein monumentales politisches Erdbeben angekündigt hätte? Wenn Trump damit zu verstehen geben wollte, dass eine politische Revolution in noch nie dagewesenem Ausmass bevorsteht?
Diese Interpretation dürfte den meisten Leuten bestenfalls ein Schmunzeln ins Gesicht zaubern: Trumps saloppe The calm before the storm-Bemerkung als eine Ankündigung grossen politischen Umbruchs? Klingt nach einem wirren Scherz. Falls wirklich eine Revolution bestünde, macht es nur leidlich Sinn, sie zuvor vor Dutzenden laufender Kameras anzukündigen. Doch eine kleine Gruppe von Menschen nahm die Sache ziemlich ernst; für sie bedeutete The calm before the storm den Anfang von etwas Grossem.
Was für Leute waren das? Nutzer auf — wie könnte es anders ein — 4chan.
Noch im Oktober 2017 wurde The calm before the storm auf 4chan zu einer ziemlich hollywoodreifen Verschwörungstheorie verwoben. Am 28. Oktober 2017 meldete sich ein angeblicher Insider der Trump-Regierung auf dem rassistisch-faschistoiden Unterforum /pol/ zu Wort und verkündete, dass Trumps The calm before the storm-Aussage eine Kampfansage an die pädophilen Demokraten und den pädophilen “Deep State”, den versteckten Staat im Staat, sei. Trump plane eine gigantische Säuberungsaktion, die er mithilfe des Militärs durchführen werde. Der angebliche Insider, der aus dem Nähkästchen plauderte, gab nicht preis, wer er ist. Stattdessen nutzte er das Pseudonym Q; wohl eine Anspielung auf den Q-Sicherheitslevel beim amerikanischen Energieministerium.
Dieser erste Post von Q war zwar komplett absurd und wohl, wie so Vieles auf 4chan, einfach eine Form sarkastischen Shitpostings (Die Vorstellung dass ein Trump-Insider, der eine politische Revolution mitplant, ausgerechnet auf 4chan alles ausplappert, ist geradezu irrwitzig.). Doch Q stiess unter den 4chan-Nutzern auf regen Anklang. Trump war ja in der Tat ein totaler politischer Aussenseiter und eignete sich entsprechend gut als Projektionsfläche für die Verschwörungssehnsüchte der 4chan-Gemeinschaft. Trump, der schon vorher auf 4chan und besonders auf /pol/ angehimmelt wurde, war gemäss Q der grosse Erlöser, der die “Linken”, die auf 4chan gehasst werden, zur ultimativen Rechenschaft zieht. Eine Story, die zu gut klingt, um nicht wahr zu sein. Und so markierte der 28. Oktober die Geburtsstunde von QAnon, der wohl bedeutendsten und folgenreichsten Verschwörungstheorie aller Zeiten (Der Name QAnon ist einfach die Verbindung von Q für den angeblichen Insider und Anon für die 4chan-Nutzer, die sich Anons nennen.).
Q beliess es nicht bei dem einen Post vom 28. Oktober. Er meldete sich bald zurück und begann, kryptische Ankündigungen, die sogenannten “Q Drops”, zu machen. Über die Jahre wurden es fast 5’000 Stück. In seinen Q Drops nahm Q im weitesten Sinn Bezug auf aktuelle Ereignisse und machte vage, komplett unspezifische Prophezeiungen. Dass Qs Ankündigungen ziemlich verschwommen und diffus waren, hat seine Anhänger aber nicht abgeschreckt. Im Gegenteil: Das gemeinsame Grübeln darüber, was der neueste Q Drop wohl bedeuten könnte, ist einer der wichtigsten Gründe für den Erfolg von QAnon. Es ist ein wenig wie bei religiösen Gruppierungen, die vage religiöse Texte lesen und dann in der Gemeinschaft eine Art Exegese der sakralen Schrift durchführen. Das schweisst zusammen und vermittelt ein wohlig-schauriges Gefühl, Dinge zu wissen, die fast niemand auf der Welt weiss. Dieser Akt des gemeinschaftlichen Entschlüsselns der Q-Rätsel zog rasch immer mehr Menschen in ihren Bann.
Im November 2017 verkündete Q dann überraschend, dass er sich von 4chan zurückziehen werde. Die Plattform sei nicht sicher genug; es drohe Zensur oder Infiltrierung durch Feinde. Sein neues Zuhause fand Q auf der Plattform 8chan: Einem 4chan-Klon, der noch einen ganzen Zacken extremistischer und ungezügelter als 4chan ist. 8chan, das sich Ende 2019 zu 8kun umtaufte, ist ein Imageboard, das im Wesentlichen identisch wie 4chan funktioniert, mit dem kleinen grossen Unterschied, dass es so gut wie keine Moderation gibt. 8kun ist, was aus 4chan wird, wenn die letzten Dämme von Menschlichkeit und Zurückhaltung brechen und der Wahnsinn komplett freien Lauf hat.
4chan und 8kun sind zwar gut frequentiert (4chan schmückt sich, vielleicht etwas zu optimistisch, mit 20 Millionen Besuchern pro Monat), aber diese Imageboards sind alles in allem nur kleine Nischen in den Unweiten des Internets. Die QAnon-Verschwörungstheorie vermochte aber, ein richtig grosses Publikum zu finden, als sie sich ihren Weg auf gängigere “Normie”-Plattformen wie Reddit, Twitter, Facebook, YouTube und dergleichen bannte (Normies sind im 4chan- und 8kun-Jargon “normale” Menschen, die die chan-Imageboards nicht kennen.). Spätestens mit dem Impeachment-Verfahren gegen Donald Trump in den Jahren 2019 und 2020 wurde QAnon dann endgültig zu einem breiten kulturellen Phänomen; eine Brille, durch die Millionen von Menschen in den USA, aber auch weltweit, die aktuellen Ereignisse zu deuten begannen.
Innerhalb von weniger als zwei Jahren mauserte sich die QAnon-Verschwörungstheorie damit von einer bizarren Diskussionsrunde auf 4chan zu einem globalen Massenphänomen. Die Überzeugungen der QAnon-Jüngerinnen und -Jünger wurden immer hanebüchener (die pädophilen Eliten würden aus dem Blut von Kindern eine besonders potente Droge gewinnen), und gleichzeitig entwickelte sich QAnon immer stärker von einer Online-Verschwörungstheorie zu einer sozialen Bewegung. Was als groteskes 4chan-Hirngespinst begann, schwappte nämlich immer stärker in die physische Realität über, mit entsprechend ganz realen, spürbaren Konsequenzen. QAnon-Anhängerinnen und -Anhänger wurden mit der Zeit zu einem festen Bestandteil von Pro-Trump-Kundgebungen; manche von ihnen liessen sich zu Gewalttaten hinreissen; die QAnon-Bewegung, die sich mit dem Motto “Where we go one, we go all” (wo einer von uns hingeht, gehen wir alle hin) als Gemeinschaft konstitutiert, fasste auch in Europa Fuss; bei den US-Wahlen vom 3. November 2020 wurden zwei QAnon-Anhängerinnen in das Repräsentantenhaus gewählt.
Ihren ekstatischen Höhepunkt erreichte die QAnon-Bewegung am 6. Januar 2021 mit dem Sturm auf das US-Kapitol in Washington. Trump und seine Komplizen stachelten ihre Gefolgschaft über Monate mit der Lüge, Biden und die Demokraten hätten Wahlbetrug begangen, an. Am 6. Januar, dem Tag, an dem Bidens Wahlsieg in einer formalen Zeremonie bestätigt werden sollte, entschied sich ein wütender Mob von Trump-Fans, die Geschicke in die eigene Hand zu nehmen und Trump mit Gewalt doch noch im Amt zu behalten.
Der Mob, der das Kapitol überfallen hatte, war ein Potpourri aus Verschwörungsgruppierungen, faschistischen Brüderschaften und einfachen Einzelpersonen, die sich alle mit grosser Inbrunst an Trumps Wahlbetrug-Lügen labten. Ganz prominent an vorderster Front mit dabei: Die QAnon-Bewegung. Hunderte bis Tausende QAnon-Anhängerinnen und -Anhänger wollten nicht mehr passiv auf den grossen Sturm warten, sondern ihn selber herbeiführen. Die Metamorphose von Verschwörungstheoretikern zu Verschwörungsaktivisten war vollendet.
Der Überfall wurde noch am 6. Januar rasch unterbunden, die unterbrochene Bestätigung des Wahlergebnisses doch noch durchgeführt. Das grosse Aufbäumen der QAnon-Bewegung blieb erfolglos. Nun blieb der QAnon-Gemeinde nur eine letzte Chance: Der 20. Januar 2021; der Tag, an dem Joe Biden als 46. Präsident vereidigt werden sollte.
Trumps Abgang und die Implosion von QAnon
Für den Grossteil der Welt war der 20. Januar 2021 “Inauguration Day”; der Tag, an dem sich Trump endgültig aus dem Weissen Haus verabschiedet und Joe Biden als neuer Präsident sein Amt antritt. Für die QAnon-Bewegung war der 20. Januar aber etwas ganz anderes: “The Great Awakening”, das grosse Erwachen. Am 20. Januar sollte Trumps komplexer, genialer Plan, am dem er Jahre — oder sogar Jahrzehnte — gearbeitet hat, endlich Früchte tragen. Am 20. Januar würde die grosse Welle der Verhaftungen der pädophilen Demokraten beginnen, und Trump würde nebenbei auch das Amt des Präsidenten behalten. Der 20. Januar sollte endlich der Beginn des rund zweieinhalb Jahre vorher angekündigten grossen Sturms sein. All dies von Trump, dem grösstem politischen Genie aller Zeiten, minutiös orchestriert und koordiniert.
Doch der Traum vom Grossen Sturm ist jäh geplatzt. Joe Biden wurde ohne Zwischenfälle als Präsident vereidigt; Donald Trump verabschiedete sich ziemlich unspektakulär nach Florida, seinem neuen Zuhause; es gab keine Verhaftungen, keine militärischen Exekutionen, keine Säuberungsaktion. Die Revolution blieb aus. QAnon schlugt knallhart auf dem Boden der Realität auf.
Unmittelbar nach dem 20. Januar machte sich in der QAnon-Bewegung grosse Resignation breit. Rein menschlich ist die Enttäuschung, ist der Schock sehr gut nachvollziehbar. Millionen von QAnon-Anhängerinnen und -Anhängern bauten sich über Monate und Jahre einen majestätischen Palast an Verschwörungstheorien auf, in dem Trump der grosse Erlöser, der leuchtende Messias war, der die Welt vom Bösen befreit und all die unschuldigen Kinder aus den Fängen der pädophilen Linken rettet. An jenem schicksalhaften 20. Januar dann fiel diese Fantasiewelt urplötzlich wie ein Kartenhaus zusammen. Ein Schock und Schmerz sondergleichen.
Als ob das Ausbleiben des grossen Erwachens, des Sturms, der Revolution nicht schlimm genug wäre, hat Trump die QAnon-Bewegung sogar aktiv verraten. In seinen letzten Stunden als Präsident hat Trump Dutzende von verurteilten und zum Teil inhaftierten Personen begnadigt, aber ausgerechnet die QAnon-Anhänger, die für ihn am 6. Januar das Kapitol gestürmt hatten, wurden verschmäht. Sie sehen sich nun mit Anklagen und potenziell langen Haftstrafen konfrontiert. Die Person, für die sie gekämpft hatten und für die sie bereit gewesen wären, ihr Leben zu opfern, liess sie eiskalt im Stich. Ein Dolchstoss.
Und was meinte eigentlich Q, der angebliche Insider und die wichtigste Triebfeder von QAnon, zu all diesen Ereignissen? Nichts. Q ist verstummt. Seinen letzten Drop, einen Link zu einem banalen Musikvideo auf YouTube, hat er am 8. Dezember 2020 veröffentlicht.
Der Kaiser ist nackt, die Prophezeiung ist gescheitert. Die Ereignisse im Januar 2021 haben QAnon das Genick gebrochen; die Realität hat die Verschwörungstheorie endgültig eingeholt.
QAnon ist tot.
Oder doch nur totgesagt?
Die Resilienz irrationaler Überzeugungen
“The Seekers”, die Suchenden, war eine amerikanische Endzeitsekte in der Region Chicago, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts aktiv war. Die Mitglieder glaubten, dass der Weltuntergang bevorstehe. Oder zumindest eine grosse Katastrophe: Die amerikanische Westküste sollte Ende 1954 überschwemmt werden — und ein ausserirdisches UFO sollte die Sektenmitglieder abholen und retten.
Die Sozialpsychologen Leon Festinger, Henry Riecken und Stanley Schachter waren von dieser Sekte fasziniert. Nicht, weil sie glaubten, dass die Mitglieder recht hatten. Sie sahen die Sekte als einen perfekten Untersuchungsgegenstand, um zu beobachten und zu verstehen, wie Gruppen reagieren, wenn ihre irrationalen Überzeugungen widerlegt werden und die Prophezeiungen, an die sie glauben, scheitern. Festinger, Riecken und Schachter infiltrierten die UFO-Sekte, um hautnah dabei zu sein, wenn die grosse Katastrophe sowie das UFO, welches die Mitglieder in das gelobte Land bringen sollte, ausblieben. Die Ergebnisse ihrer Beobachtungen haben die Autoren im Buch “When Prophecy Fails” verschriftlicht.
Die Untersuchung ist aus heutiger Sicht nicht ganz unproblematisch (eine Sekte zu infiltrieren, ist wissenschaftlich heikel), die Ergebnisse aber nach wie vor erhellend. Nachdem der Weltuntergang ausblieb, hat sich ein Teil der Mitglieder von der Sekte abgewandt; das Scheitern der Prophezeiung war eine zu derbe Ernüchterung. Doch nicht alle Sektenmitglieder haben auf diese zu erwartende, rationale Art reagiert. Ein Teil der Gruppe hat sich stattdessen noch stärker in die Glaubenssätze der Sekte verbissen. Das Ende der Welt, so die Schlussfolgerung dieser faktenresistenten Teilgruppe, sei nicht ausgeblieben, weil ihr Glaube Quatsch war. Nein, im Gegenteil: Mit all ihrer Liebe und ihren positiven Emotionen hätten es die Sektenmitglieder in Tat und Wahrheit geschafft, das Ende der Welt abzuwenden.
Das Scheitern der Prophezeiung wurde also, paradoxerweise, zu einer Bestätigung der Prophezeiung umgedeutet. Das, was die Menschen von ihrem Glauben hätte abbringen sollen, hat ihren Glauben noch verstärkt. Dieser Befund gilt bis heute als klassisches Beispiel für den menschlichen Umgang mit sogenannten kognitiven Dissonanzen. Wenn wir mit widersprüchlichen Informationen konfrontiert sind, wollen wir diesen Widerspruch tilgen und eine vermeintlich kohärente, für uns bequeme Überzeugung formieren. Wir wollen weiterhin glauben, was wir schon vorher geglaubt haben und rücken uns die Dinge so zurecht, dass kognitiv und emotional passt, was passen muss. Ich rauche und die Wissenschaft sagt, dass Rauchen sehr gravierende Gesundheitsschäden verursacht? Ach was; der Grossvater meiner Freundin wurde 96 Jahre alt und hat täglich zwei Schachteln Zigaretten verraucht.
Irrationale Überzeugungen sind resilient, hartnäckig, anpassungsfähig. Besonders, wenn wir viel in sie investiert haben. Höre ich am 19. Januar 2021 zum ersten Mal von QAnon und dem grossen Erwachen, das am 20. Januar stattfinden soll, zucke ich am 21. Januar, nachdem nichts passiert ist, mit den Schultern und lege QAnon gedanklikch wieder beiseite. Habe ich mich aber jahrelang im QAnon-Ökosystem bewegt, jedem Q Drop gelauscht und mein ganzes Weltbild auf den grossen Sturm gegen die pädophile Elite ausgerichtet, lasse ich mir meinen Glauben nicht so einfach austreiben.
Die Aufwärmübungen für die bevorstehende Gehirnakrobatik, QAnon an die neue Realität anzupassen, haben bereits begonnen. Das Ganze sei einfach Teil des genialen Schachspiels von Donald Trump, der im Moment zwar nicht mehr im Amt, aber noch lange nicht weg vom Fenster ist. Jetzt beginnt der Kampf gegen die pädophilen Linken erst so richtig. Die Kräfte des Bösen mögen die Schlacht gewonnen haben, aber der Krieg ist noch lange nicht vorbei.
Die Prophezeiung mag zwar nicht eingetreten sein, aber das bestätigt nur, dass das Grosse Ganze eben doch wahr ist.
QAnon ist tot; es lebe QAnon
QAnon ist längst nicht mehr eine einfache Verschwörungstheorie, die an so etwas Trivialem wie der Realität zerbrechen könnte. QAnon ist ein Totalphänomen; ein wahnhaftes Kaleidoskop, das für Millionen von Menschen ein wichtiges, in vielen Fällen wohl auch das einzige Fenster ist, durch das sie die Welt sehen. Gibt es Unstimmigkeiten, werden sie vom Tisch gefegt oder in den QAnon-Epos eingeflechtet — jedes Argument gegen QAnon stärkt QAnon. Der Glaube an die Verschwörung ist ein lebendiger, dezentraler Organismus, der sich ständig weiterentwickelt und an seine Umwelt anpasst. Ein Parasit, dem, wenn er sich im Kopf festgesetzt hat, mit rationalen Argumenten und Kritik nur schwer beizukommen ist.
Auch, wenn sich der Möchtegern-Insider Q nie mehr zurückmelden sollte und Trump den Rest seines Lebens mit Golfen verbringt, dürfte das letzte Kapitel von QAnon noch lange nicht geschrieben sein. Die QAnon-Bewegung, der QAnon-Mythos, die QAnon-Sehnsüchte sind längst über die ehemaligen Protagonisten Q und Trump hinausgewachsen. Vielleicht sind die Tage von QAnon im engeren Sinn gezählt. Doch die paranoide Fantasiewelt, zu der QAnon Millionen von Menschen den Weg geebnet hat, hält noch viel bereit. Die Büchse der Pandora ist offen, die Verschwörung überall, der Widerstandskampf erst am Anfang.
Where we go one, we go all.