Wer den Kapitalismus retten will, sollte die 99%-Initiative unterstützen
Dass Kapitaleinkommen weniger besteuert werden als die Arbeit, die diese Kapitaleinkommen erschafft, ist pervers - und nicht nachhaltig.
Hans hat im letzten Jahr als Angestellter mit seinem Lohn ein Einkommen von 70’000 Franken erzielt. Er wohnt in Zürich und zahlt insgesamt rund 9’000 Franken Steuern.
Fredi, der auch in Zürich wohnt, hat im letzten Jahr rund eine Million Franken verdient. Aber nicht durch Lohn als Angestellter, sondern durch Aktiengewinne: Fredi hat Aktien für 10 Millionen Franken gekauft und ein Jahr später für 11 Millionen Franken verkauft. Fredi bezahlt auf seinen satten Kapitalgewinn keinen Rappen Steuern. Null, nix, nada.
Ist es gerecht, dass Hans, der für sein überschaubares Einkommen jeden Tag zur Arbeit antraben muss, verhältnismässig (und in diesem Szenario auch absolut; die Schweiz kennt keine Kapitalertragsteuer) mehr Steuern bezahlt als Fredi, der ganz ohne Arbeit ein hohes passives Einkommen erzielt, weil er bereits reich ist?
Nicht, wenn es nach der “99%-Initiative” geht, über die die Schweiz am 26. September 2021 abstimmt. Die Volksinitiative sieht vor, dass Einkommen aus Kapital (also aus Vermögen) wie zum Beispiel Dividenden, Zinsen oder Wertschriftengewinne stärker besteuert werden. Konkret: Kapitaleinkommen sollen ab einem gewissen Freibetrag zu 150% im Vergleich zu den 100% für Einkommen aus Lohnarbeit steuerbar sein. Das bedeutet für das obige Beispiel, dass Fredi seinen Kapitalgewinn in Höhe von 1 Million Franken neu als Einkommen in Höhe von 1.5 Millionen Franken besteuern müsste (Für seine Aktiengewinne in Millionenhöhe würde er als Stadtzürcher nun neu rund 580’000 Franken Steuern zahlen.).
Die 99%-Initiative zielt auf die sprichwörtlichen reichsten 1% der Schweizer Bevölkerung, die allein durch den Umstand, dass sie bereits sehr reich sind, immer mehr Reichtum anhäufen. Die “bürgerlichen” Parteien FDP, Die Mitte, GLP sowie die SVP, die per Definition den Interessen dieses Grosskapitals zudienen, lehnen die Initiative energisch ab. Doch das ist ein grosser Fehler: Besonders die Verfechter des Kapitalismus sollten ein Interesse daran haben, diesen durch milde Reformen wie die 99%-Initiative zu reformieren. Die Alternative ist nämlich der unausweichliche Crash.
Das Verhältnis von Arbeit und Kapital
Arbeit und Kapital sind zwei Seiten der wirtschaftlichen Medaille unter den Bedingungen des Kapitalismus. Die Grundformel des klassischen Industriekapitalismus ist eine ganz einfache:
G → W → G’
Geld (G), also Kapital, wird in Arbeitskraft investiert, dank der wie auch immer geartete Waren (W) hergestellt werden können. Diese werden dann mit Profit verkauft, wodurch das Vermögen der Kapitalist*innen wächst (G’). Bereits in dieser klassischen Form des kapitalistischen Wirtschaftens wird klar, dass eine stärkere Besteuerung von Lohnarbeit vis-à-vis Kapitaleinkommen ungerecht ist. Die erzeugten Kapitaleinkommen sind nämlich erst und ausschliesslich durch die Arbeit der Arbeiterinnen und Arbeiter realisiert worden — die Arbeiterschaft hat den wirtschaftlichen Mehrwert, den die Kapitalist*innen als Gewinne abschöpfen, durch ihre Arbeit aktiv erzeugt.
Heute leben wir aber nicht mehr im klassischen Industriekapitalismus, sondern in der Ära des Finanzkapitalismus. Im Finanzkapitalismus ist die kapitalistische Grundformel eine andere:
G → G’
Der Grossteil des heute investierten Kapitals fliesst in die Finanzmärkte (z.B. Aktienmärkte), bei denen das einzige Ziel ist, möglichst schnell möglichst grosse Gewinne zu generieren; und zwar ganz losgelöst von Investitionen in die Arbeitskraft von Arbeiter*innen und von der Erzeugung von Waren. Während im klassischen Industriekapitalismus immerhin noch ein direkter Bezug zur Realwirtschaft und zum Erschaffen von Dingen, die das menschliche Leben verbessern, besteht, geht es im heutigen Finanzkapitalismus ausschliesslich um das schnelle Geld, das aus der Perspektive von Anleger*innen effektiv durch Nichtstun generiert wird. Wenn Fredi seine 10 Millionen Franken in Aktien anlegt, erschafft er nichts und arbeitet nicht. Es geht im einzig und allein um eine schnelle Wertsteigerung seiner Wertpapiere.
Einspruch! An dieser Stelle müssen wir einwenden, dass die Anleger*innen im heutigen Finanzkapitalismus zwar nichts tun und ihr Geld nur passiv anlegen mögen, um es zu vermehren. Aber sie gehen mit Ihren Anlagen doch beträchtliche Risiken ein, nicht? Als Arbeiter kriege ich meinen fixen, sicheren Lohn und weiss heute, was mich morgen erwartet. Demgegenüber spiele ich als kapitalistischer Anleger quasi im Casino und kann über Nacht alles verlieren. Weil der kapitalistische Anleger auf diese Art mehr riskiert, ist es doch nur gerecht, wenn er dafür auch belohnt wird?
Nein, und zwar aus zwei Gründen. Erstens hat das, worauf kapitalistische Anleger*innen spekulieren, letztlich nur darum einen wirtschaftlichen Wert, weil die Arbeit der Arbeiter*innen diesen Wert erschafft. Wenn Fredi Aktien eines Autoherstellers kauft und damit Geld verdient, dann ergibt sich die Wertsteigerung letztlich ausschliesslich aus der (antizipierten) Arbeit der Arbeiter*innen, die die Autos konzipieren, bauen und vertreiben.
Zweitens, und noch wichtiger: Die Kapitalistenklasse geht in Tat und Wahrheit keine Risiken ein. Die Anleger*innen spielen in systemischer Hinsicht nicht im Casino — sie sind das Casino. Und das Haus gewinnt mittel- und langfristig immer. Das verdeutlicht ein Langzeit-Blick auf die Entwicklung der Aktienmärkte. Zum Beispiel jenen in der Schweiz:
Ganz ähnlich ist das Bild auch in den USA:
Auch in Deutschland steigt und steigt das Vermögen der Anleger*innen seit Jahrzehnten:
Und auch im Vereinigten Königreich geht der Langzeittrend auf dem Aktienmarkt klar in Richtung Vermögenssteigerung:
In Einzelfällen kann es natürlich sein, dass Anleger*innen Risiken eingehen und Pech haben. Wenn Fredi seine 10 Millionen in ein einziges Start Up-Unternehmen gesteckt hätte, hätte er tatsächlich alles verlieren können. Aber in systemischer Hinsicht gewinnen Kapitalist*innen immer. In der Realität sind nur die wenigsten reichen Anleger*in so töricht, ihr gesamtes Vermögen auf eine einzige Karte zu setzen — die Reichen legen diversifiziert an und profitieren damit von der systemischen Verzerrung zugunsten des Kapitals. Das Spiel ist getürkt; die Gewinner stehen von vornherein fest.
Systemische Risiken gibt es in unserer kapitalistischen Gesellschaftsordnung zwar durchaus. Doch diese werden in erster Linie von den Arbeiterinnen und Arbeitern geschultert. Wenn Unternehmen wirtschaftlich zu kämpfen haben und Stellen abbauen, oder ganz einfach, wenn es sich für den Aktienkurs lohnt, Mitarbeitende zu entlassen, sind Arbeiter*innen die Leidtragenden. Wenn prekäre Arbeitsformen wie Temporärarbeit, befristete Anstellungen oder Gig-Arbeit zunehmen, profitieren Anleger*innen ganz direkt von dieser ökonomischen Ausbeutung der Arbeiter*innen. Wenn Krisen und Schocks wie etwa die globale Finanzkrise 2007/2008 oder die Coronavirus-Pandemie eintreten, werden Arbeiter*innen materiell am stärksten getroffen, während die Vermögen der Anleger*innen wachsen.
Die Alternative zu Reformen: Mit Vollgas gegen die Wand
Langer Rede kurzer Sinn: Die 99%-Initiative ist nicht “antikapitalistisch” oder gar “sozialistisch” — sie ist eine milde sozialstaatliche Reform, die unsere gegenwärtige kapitalistischen Gesellschaftsordnung ein kleines Stück weniger unfair macht. Ein kleiner Rettungsring, der hilft, den Kapitalismus vor sich selber zu retten. Denn so, wie unsere Gesellschaft in materieller Hinsicht gegenwärtig funktioniert, kann sie nicht ewig weiter funktionieren. Ungleichheit bei Vermögen nimmt weltweit seit Jahrzehnten zu, und damit einhergehend steigt auch kumulative Ungleichheit: Wer bereits hat, dem wird immer mehr gegeben. Materielle Ungleichheit bedeutet immer auch Machtungleichheit; in ökonomischer, politischer, kultureller Hinsicht. Leidet eine Gesellschaft unter zu vielen Machtasymmetrien, wird sie brüchig.
Die kapitalistische Gesellschaftsordnung kann mittelfristig nur überleben, wenn sie gerechter wird und zum sozialen Frieden beiträgt. Wenn wir Vermögen in einem solchen Ausmass umverteilen, dass ein lebenswertes, würdiges Leben auch dann möglich ist, wenn man nicht (zufälligerweise) auf der Seite der wenigen kapitalistischen Gewinner steht, kann der Kapitalismus eine friedliche Evolution durchmachen.
Wenn wir aber, wie in den letzten rund vier Jahrzehnten der neoliberalen Revolution, den Interessen des Grosskapitals weiter Vorschub leisten, steigen die gesellschaftlichen Spannungen in einem solchen Mass, dass es irgendwann unbequem wird. Symptome dieser Überstrapazierung des Gesellschaftsvertrags konnten wir denn auch schon in den letzten rund zehn Jahren beobachten: Weltweit gab es einen Aufstieg rechtspopulistischer bis quasi-faschistoider Ideologien und Akteure, von Trump über Orban bis Modi, die die Millionen und Milliarden von Menschen, die unter die kapitalistischen Räder geraten, mit falschen Problemdiagnosen ein besseres Leben versprechen.
Nichts zu tun und keine milden Reformen wie die 99%-Initiative umzusetzen, bedeutet letztlich, eine akzelerationistische Position einzunehmen: Die Probleme des Status Quo werden weitergeführt und verschärft – und zwar so lange, bis es knallt.
Veränderung ist unumgänglich. Die Frage ist nur, in welcher Form sie daherkommt: Schrittweise und geregelt, oder, wenn der Druck zu hoch wird, explosionsartig und mit ungewissem Ausgang.
Toller Beitrag! Sollten wir den Neoliberalismus für diese Entwicklung anprangern? Ich denke geradde an https://www.republik.ch/2021/07/30/hayeks-bastarde. Die Initiative wird es schwierig haben, die Stimmbürger werden Schlussendlich den Reichen in die Hände spielen: https://www.republik.ch/dialog?t=article&id=a881cfca-155d-4e02-8763-d3f23d92b240&focus=04a526b1-ff00-4b34-b505-3d4e6a5d7b69
Sie verstehen den Unterschied zwischen Kapitalgewinnsteuer und Kapitalertragssteuer nicht. Informieren sie sich doch bitte erst über die Grundlagen, bevor sie sich mit dem Liberalismus auseinandersetzen.