Bitcoin, NFTs und Co.: Die digitale Metastase des Finanzkapitalismus
Die Blockchain-Revolution ist nur heisse Luft. Wortwörtlich.
Die Grundformel des Kapitalismus, frei nach Karl Marx, ist ganz simpel:
G → W → G’
Geld (G) wird investiert, um Waren (W) egal welcher Art zu erschaffen, und daraus resultiert mehr Geld, als am Anfang investiert wurde (G’). Das ist die grundlegende Anreizstruktur des Kapitalismus. Wenn ich beispielsweise eine Kaugummi-Fabrik gründe, wird es möglich, in dieser Fabrik Kaugummi herzustellen, um ihn anschliessend zu verkaufen. Mit ein bisschen Glück läuft das Geschäft gut und ich erfreue mich als Besitzer der Fabrik bald schöner Gewinne, sodass sich meine Investition gelohnt hat.
Macht Sinn, oder? Kapitalismus kann man gut oder schlecht finden, aber diese grundlegende Funktionsweise des kapitalistischen Wirtschaftens ist einleuchtend.
Doch der moderne Kapitalismus funktioniert heutzutage zu grossen Teilen fundamental anders. Und zwar so:
G → G’
Aus Geld wird direkt mehr Geld; der “Zwischenschritt” des Herstellens von Waren fällt weg. Wie zum Teufel soll das funktionieren?
Der klassische G-W-G’-Kapitalismus ist Investitionskapitalismus. Investitionen in Kapitalgüter machen es möglich, Arbeitskraft einzusetzen, um einen Output (Güter und Dienstleistungen) herzustellen und profitabel zu verkaufen. Im Gegensatz dazu ist die G-G’-Variante von Kapitalismus der sogenannte Finanzkapitalismus. Beim Finanzkapitalismus geht es nicht darum, produktiv Güter und Dienstleistungen über Arbeitskraft herzustellen, sondern lediglich um Profitmaximierung über Investitionen in Finanzprodukte. Oder, einfacher ausgedrückt: Finanzkapitalismus bedeutet Profit ohne Produktion1.
Ein typisches Beispiel für Finanzkapitalismus ist der Aktienmarkt. Wie wir alle spätestens seit der Coronavirus-Pandemie wissen, hat der Aktienmarkt ziemlich wenig mit der produktiven Realwirtschaft zu tun: Während die produktive Wirtschaft im Zuge der Pandemie gelitten hat (was vor allem die Arbeiterschaft zu spüren bekommen hat), haben sich Aktienmärkte im Rekordtempo erholt — und die Superreichen wurden in der Pandemie nochmals ein ganzes Stück superreicher2.
Finanzkapitalistische Geld- und Vermögensakkumulation ist kein grundsätzlich neues Phänomen, aber heute leben wir in der eigentlichen Ära des Finanzkapitalismus. Seit den 1980er Jahren stellt das globale Geschehen auf Finanzmärkten die Realwirtschaft ziemlich locker in den Schatten3. Doch damit nicht genug: Das vergangene Jahrzehnt hat uns eine neue Welle an bizarren digitalen finanzkapitalistischen Vehikeln und Hypes beschert — der Blockchain-Technologie sei dank.
Blockchain: Von egalitärer Utopie zu finanzkapitalistischer Dystopie
2008 veröffentlichte der mysteriöse Satoshi Nakamoto (bis heute ist unbekannt, wer hinter diesem Pseudonym steckt) ein Papier, in dem er die digitale Währung Bitcoin vorstellte4: Ein komplett dezentrales digitales Geld, das von niemandem, auch nicht von Staaten, kontrolliert werden kann. Das Revolutionäre an dieser Idee war die Art, wie sie umgesetzt wurde. Um Bitcoin möglich zu machen, erfand Nakamoto nämlich die sogenannte Blockchain-Technologie. Die Blockchain ist eine digitale Datenbank, die nicht an einem einzigen Ort gespeichert, sondern über potenziell unendlich viele Computer gleichzeitig verteilt ist. In dieser Datenbank können dann zum Beispiel Bitcoin-Transaktionen mehr oder weniger fälschungssicher notiert werden. Das funktioniert, weil die Datenbank dezentral verteilt ist und die Einträge in der Datenbank mittels ziemlich schlauer kryptografische Mechanismen verifiziert und gesichert werden.
Die Blockchain-Technologie, die grundsätzlich für alles Erdenkliche eingesetzt werden kann (Bitcoin war einfach der erste Use Case), wurde in Tech-affinen Zirkeln rasch als revolutionäre Technologie gefeiert, die die Welt fundamental zum Besseren verändern würde5 6. Die Blockchain ist egalitär und transparent und frei zugänglich und manipulationssicher. Ein utopischer Silberstreifen am Horizont einer ansonsten düsteren, von oligopolistischen Giganten wie Google, Facebook und Amazon dominierten Tech-Welt.
Was ist aus der schönen neuen Blockchain-Welt geworden? Wenig mehr als eine Ansammlung irrwitziger finanzkapitalistischer Blasen.
Bitcoin gibt es auch heute noch. Aber aus der anarchistischen Währung von allen für alle ist ein groteskes Investitionsvehikel geworden, in das sowohl Kleinanleger als auch grosse institutionelle Investoren Geld reinbuttern7. Die Motivation dafür ist die Hoffnung, dass noch sehr viele weitere Leute Geld in Bitcoin reinbuttern und sie, die Investoren, die früher an Bord kamen, dann irgendwann ihre Bitcoins mit gigantischem Prift verkaufen können. Dieses Credo hat sich in der Szene zu einem quasi-religiösen Mantra verfestigt: HODL. Der Begriff HODL war ursprünglich ein sarkastischer Tippfehler von “hold” (Bitcoins halten, nicht verkaufen), beschreibt heute aber die ganz ernste und ehrliche Überzeugung der Bitcoin-Anleger, dass die Blase, die rein gar nichts mit der Realwirtschaft zu tun hat und ausschliesslich aus computergenerierten Zahlen besteht, nur gross genug werden muss — dann machen sie richtig Kasse. Die surreale Krönung des Ganzen: Um Bitcoin am Laufen zu halten, ist verdammt viel Strom notwendig. Gegenwärtig verbraucht das Bitcoin-Netzwerk rund 138 Terawattstunden Strom pro Jahr8. Zum Vergleich: In der ganzen Schweiz werden jährlich nur rund 57 Terawattstunden Strom verbraucht9.
Ein weiteres aktuelles Beispiel, wie die Blockchain-Technologie in finanzkapitalistischem Wahnsinn mündet, sind “Non-fungible Tokens”, oder kurz NFTs. NFTs sind digitale Zertifikate über das Eigentum digitaler Inhalte, die auf einer Blockchain-Datenbank festgehalten werden. Aber die Zertifikate haben nichts mit Urheberrechten oder Lizenzen oder dergleichen zu tun. Ein NFT ist schlicht eine digitale Urkunde, die besagt, dass ein digitaler Inhalt einer Person X gehört — aber der digitale Inhalt an sich kann nach wie vor von jeder und jedem eingesehen, genutzt, gespeichert und verfielfältigt werden. NFTs machen mich zum “Besitzer” eines digitalen Inhalts, über den ich keinerlei Kontrolle habe. Wenn das irgendwie verrückt klingt: Ja, das ist es.
Der NFT-Wahn ist, ganz ähnlich wie Bitcoin, eine Blase in Reinform. Klein- und Grossinvestoren stürzen sich auf NFTs und geben, wie im Fall eines digitalen Kunstwerks von Beeple10, bisweilen absurde Summen im zweistelligen Millionenbereich aus. Der Grund: NFT-Investoren gehen davon aus, dass die an sich in jeder Hinsicht absolut nutzlosen NFTs eine Wertsteigerung erleben — weil sie darauf zählen, dass sich noch mehr Leute noch grössere Wertsteigerungen erhoffen und entsprechend noch mehr Geld reinpumpen11. Nun könnte man einwenden, dass sich das ja nicht gross z.B. vom traditionellen Kunstmarkt unterscheidet, der auch wenig mehr als ein Spielfeld für finanzkapitalistische Geldvermehrung ist. Das stimmt, aber bei analoger Kunst wird immerhin in ein knappes, limitiertes Gut investiert. Wenn ich zehn Millionen für einen Picasso ausgebe, bin ich zumindest exklusiv im Besitz des Bildes. Wenn ich zehn Millionen für einen NFT eines digitalen Bildes ausgebe, besitze ich nur eine komplett nutzlose Urkunde, die in keiner Weis Einfluss darauf hat, wer was wie mit dem Bild macht.
Finanzkapitalismus regiert die Welt, aber von nichts kommt am Ende eben doch nichts
Die Moral der Geschichte? Finanzkapitalismus im Allgemeinen, digitaler Finanzkapitalismus im Besonderen ist eine Art kollektive Wahnvorstellung. Die Welt wird durch finanzkapitalistische Vermögensakkumulation keinen Deut besser. Profit ohne Produktion ist eine Absurdität, und die Blockchain-basierte Hightech-Variante dieser Absurdität ist ein bizarres Zeugnis unserer spätkapitalistischen Realität. Dass Kapitalismus zu so etwas ausartet, hätte sich Marx wohl in seinen schlimsten Alpträumen nicht vorstellen können.
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Berkhout, Esmé, Nick Galasso, Max Lawson, Pablo Andrés Rivero Morales, Anjela Taneja, and Diego Alejo Vázquez Pimentel. The Inequality Virus: Bringing Together a World Torn Apart by Coronavirus through a Fair, Just and Sustainable Economy. Oxfam, 2021. https://doi.org/10.21201/2021.6409.
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“Cambridge Bitcoin Electricity Consumption Index (CBECI),” 2021. https://cbeci.org/.
Chayka, Kyle. “How Beeple Crashed the Art World.” The New Yorker, March 22, 2021. https://www.newyorker.com/tech/annals-of-technology/how-beeple-crashed-the-art-world.
Surowiecki, James. “Why the NFT Craze Is a Bubble Waiting to Pop.” Medium, March 8, 2021. https://marker.medium.com/why-the-nft-craze-is-a-bubble-waiting-to-pop-ad35922ca210.