Corona und Abstimmungs-Verschwörungstheorien: Nicht lustig
Die Corona-Radikalisierung erreicht eine gefährliche neue Stufe.
Am 28. November stimmt die Schweiz über das Covid-Gesetz ab. Im Zuge des Abstimmungskampfes wurde der Ton der Debatte immer schriller und realitätsferner: Auf dem Spiel stehe nicht weniger als die Demokratie an und für sich, denn das Covid-Gesetz gehe in Richtung einer “auf Dauer angelegten Gesundheitsdiktatur”, meinen die Gegner*innen des Gesetzes.
Einige von ihnen gehen in ihrer Sicht der Dinge aber noch einen Schritt weiter. Die Abstimmung von Ende November sei in Tat und Wahrheit ein abgekartetes Spiel — es fände grossangelegter Abstimmungsbetrug statt, und die Abstimmung sei nur eine Farce. Das behauptet zum Beispiel der einflussreiche Corona-Skeptiker Roger Bittel von BITTEL TV, mit dem ich vor Kurzem ein Gespräch geführt habe. Auf meine Nachfrage, was denn die Beweise für Abstimmungsbetrug seien, räumte Bittel ein, dass er keine Beweise, sondern nur ein “Gefühl” habe. Aber jede*r solle selber recherchieren und “die Punkte verbinden”. Wie das geht, vermochte er mir leider nicht zu erklären; ich hätte die Punkte liebend gerne zu verbinden versucht.
Auch Jean-Michel Scheidegger, der Betreiber der Webseite “wahl-beobachter.ch”, ist überzeugt, dass wir Opfer von Abstimmungsbetrug sind. Auf der Webseite heisst es:
Doch unsere Demokratie ist in Gefahr! Die bevorstehenden Wahlen, sowie zahlreiche Wahlen davor, wurden manipuliert.
Die Lösung? Man lädt ein Foto des ausgefüllten Stimmzettels, ein Foto des Ausweises und ein Selfie hoch. Et voilà, die Abstimmung ist gesichert. Wie? Die Blockchain wird es schon irgendwie regeln.
Über derart stümperhaft konstruierte Verschwörungserzählungen zu imaginiertem Abstimmungsbetrug könnte man auf den ersten Blick schmunzeln. Doch die Situation ist alles andere als lustig. Der Umstand, dass ein Teil der massnahme-kritischen Bewegung solche Verschwörungstheorien streut, zeugt von einer neuen und gefährlichen Stufe der Radikalisierung: Wenn Menschen ohne den Hauch eines Beweises behaupten, dass demokratische Prozesse durch böse Mächte manipuliert und korrumpiert seien, lehnen diese Menschen Demokratie letztlich ab. Es kommt nicht heraus, was ich mir wünsche? Das kann nicht sein; es muss eine Verschwörung dahinter stecken.
Dieses Verschwörungsnarrativ ist hoch problematisch, weil es eine Einbahnstrasse der Radikalisierung bedeutet, aus der es keinen einfachen Ausweg gibt. Über Sinn und Zweck der Corona-Massnahmen können wir als Gesellschaft trotz überhitzter Rhetorik immer noch halbwegs vernünftig diskutieren. Wenn sich die Konfliktlinie aber weg von konkreten Sachverhalten und hin zu einer verschwörungstheoretisch aufgeladenen totalen Ablehnung demokratischer Prozesse bewegt, ist auch eine Debatte nicht mehr möglich. Wie denn auch, wenn die politischen Gegner*innen als Angehörige der bösen, korrupten Verschwörung angesehen werden?
Wohin die verschwörungstheoretische Ablehnung demokratischer Prozesse führt, sehen wir gegenwärtig in den USA. Donald Trumps monumentale Lüge, er und nicht Joe Biden habe die Präsidentschaftswahl 2020 gewonnen, hält Dutzende Millionen von Amerikaner*innen nach wie vor in einem verschwörungstheoretischen Fieberwahn, befeuert durch den QAnon-Verschwörungskult und — ironischerweise — eine superreiche rechtskonservative Elite, die in antidemokratischen Verschwörungstheorien eine Chance sieht, ihre Macht weiter auszubauen. Die Situation in den USA demonstriert, dass ideologisch aufgeladene Verschwörungserzählungen über Wahl- und Abstimmungsbetrug, so lächerlich sie auch sein mögen, sich wie ein Lauffeuer verbreiten können.
In den letzten anderthalb Jahren Pandemie haben wir uns an die zunehmend radikalere Rhetorik extremistischer Massnahme-Gegner*innen gewöhnt — der erste “Diktatur!”-Schrei erstaunte und besorgte uns; nach dem hundertsten und tausendsten “Diktatur!”-Schrei sind wir abgestumpft. In der demokratischen Debatte muss denn auch Raum für irrationale Überzeugungen und wirre Ansichten sein. Wenn die Rhetorik aber explizit antidemokratisch wird, ist eine rote Linie überschritten. Der zivilisierte demokratische Prozess kann nicht funktionieren, wenn ein Teil der Gesellschaft diesen Prozess komplett und grundsätzlich ablehnt.
Aus diesem Grund müssen wir auf antidemokratische Verschwörungstheorien dezidiert reagieren und in der Debatte klar und unmissverständlich aufzeigen, dass und warum solche Verschwörungs-Rhetorik inakzeptabel ist. Anti-demokratischer Extremismus darf nicht salonfähig werden.
Etwas Gutes haben die Verschwörungstheorien über Abstimmungsbetrug aber: Sie entlarven ein für alle Mal, dass das Gerede von “Grundrechten”, “Verfassung” und nicht zuletzt “Demokratie” bei jenen extremistischen Massnahme-Gegner*innen, die diese Verschwörungstheorien vertreten, komplett unaufrichtig und heuchlerisch ist. Das, wofür diese Menschen einzustehen vorgeben, bekämpfen sie in Tat und Wahrheit.
Vielleicht sollte man konsequent von Verschwörungsmythen oder -erzählungen sprechen und nicht mehr von -theorien. Letzteres geben selbst den haarsträubendsten Geschichten fast noch eine scheinbar akademische Legimitation.
Die superreiche, rechtskonservative Elite kennen wir auch in der Schweiz: ihr Regierungsvertreter zieht sich sogar kamerawirksam das Hemd der verschwörungsgläubigen Demokratiefeinde über.