Der Krieg in der Ukraine ist auch ein Informationskrieg. Und wir sind mittendrin. Manchmal geht es um kleinere Details des Kriegsverlaufs: Woher flog die jüngste Drohne? Wie viele Menschen sind beim letzten Angriff auf welcher Seite gestorben? Oft geht es aber auch um die grossen, grundlegenden Fragen: Warum ist überhaupt Krieg? Wer trägt die Verantwortung für den Krieg?
Es gibt zwei wesentliche Deutungsmuster zu dieser übergeordneten und zentralen Frage. Das erste ist, dass Putins Russland den unabhängigen Staat Ukraine im Rahmen eines illegalen Angriffskriegs überfallen hat, um Territorium zu annektieren und die Unabhängigkeit der Ukraine zu beenden. Aus dieser Sicht, die wir den völkerrechtlichen Konsens nennen können, hat der Krieg ein klares moralisches Gefälle. Putins Russland ist der Aggressor, gegen den sich die Ukraine legitimerweise wehrt.
Es gibt aber noch ein weiteres Deutungsmuster. Darin wird die Prämisse, dass Russland die Ukraine angegriffen hat, zwar akzeptiert (abgesehen vielleicht von Extremfällen wie Donald Trump, die in einem Fiebertraum des Wahns behaupten, die Ukraine habe den Krieg begonnen). Aber, so das Kernargument dieser alternativen Deutung: Der russische Krieg gegen die Ukraine ist eine mehr oder weniger legitime, nachvollziehbare Reaktion auf das vergangene Fehlverhalten westlicher Staaten. Russland greift in der aktuellen Situation formal an, ja, aber historisch und geostrategisch wehrt sich Russland.
Wogegen soll sich Russland wehren? Gegen die Gefahr, die eine expandierende NATO für Russland darstelle. Der Ukraine-Krieg habe nicht 2022 und auch nicht 2014 mit der Annexion der Krim begonnen. Die Geschichte habe ihren Anfang im Jahr 1990.
Das Ganser-Narrativ: Die USA haben ihr Versprechen gebrochen
Der vielleicht bekannteste deutschsprachige Verfechter der alternativen Deutung des Ukraine-Krieges ist der Schweizer Historiker Daniele Ganser. Ganser erklärt seit Jahren in Referaten und Videos, was tatsächlich Kern des Problem sei. 1990 gab es Verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion zur NATO. Konkret hatten der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und sowjetischer Staatspräsident Michail Gorbatschow und der amerikanische Aussenminister James Baker darüber verhandelt, ob es eine NATO-Osterweiterung geben dürfe.
In diesem Video erklärt Ganser die Details. Baker habe im Namen der USA versprochen, es werde keine Erweiterung der NATO in den Osten geben. “Not an inch”, keinen sprichwörtlichen Zentimeter werde sich die NATO in Richtung Osten ausdehnen.
So ist es aber, wie Ganser korrekt bemerkt, nicht gekommen: Seit 1990 sind eine Reihe osteuropäischer Staaten der NATO beigetreten. Die Ganser’sche Deutung scheint also plausibel und überzeugend: 1990 versprachen die USA, die NATO werde sich nicht in den Osten ausdehnen — “not an inch” — , aber die NATO tat genau das. Dieser Wortbruch lag damit den Grundstein für den Krieg in der Ukraine. Das westliche Militärbündnis wuchs und wuchs und rückte Russland immer stärker auf die geopolitische Pelle.
Der Krieg in der Ukraine ist in dieser Auslegung letztlich vom Westen verursacht. Die NATO-Ausdehnung in den Jahrzehnten nach dem Ende des Kalten Krieges war eine unilaterale Aggression gegenüber Russland. Es gibt auf der einen Seite keine Sowjetunion und keinen Warschauer Pakt mehr — dafür aber auf der anderen Seite eine NATO, die immer grösser und immer mächtiger wird und immer näher an Russlands Grenzen steht. Putins Ukraine-Krieg ist im Rahmen dieser historischen Entwicklung nur eine Notbremse, um die militärische Bedrohung durch den Westen nicht noch grösser werden zu lassen. Der Wortbruch von 1990 kann nicht endlos weitergehen.
Die Wahrheit: Es ging um die deutsche Wiedervereinigung
Die Ganser’sche Deutung ist sehr plausibel und offenbar historisch dokumentiert. Die besagten Verhandlungen 1990 gab es tatsächlich. Der US-Aussenminister James Baker sagte damals tatsächlich, die Nato werde sich keinen Zentimeter nach Osten ausdehnen, “not an inch”. Die gesamte Geschichte wirkt wie ein “Plot Twist”, der dramaturgisch sehr überzeugend ist. Ganz nach dem Motto: Nichts ist so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint.
Die Ganser’sche Deutung hat aber ein Problem: Sie ist historisch 100% falsch. Nicht 80%, nicht 90%. 100% falsch. Das angebliche Versprechen, dass die NATO keine osteuropäischen Staaten aufnehmen würde, ist ein Mythos.
1990 gab es in der Tat Verhandlungen zwischen Gorbatschow und Baker. Bei den Verhandlungen ging es aber ausschliesslich um die deutsche Wiedervereinigung und die Frage, was der sicherheitspolitische Status von Ostdeutschland, der ehemaligen DDR, sein soll.
Die DDR war bis zur Wiedervereinigung Teil des Warschauer Paktes, dem von der Sowjetunion dominierten Gegenstück zur von den USA dominierten NATO. Die Sowjetunion hatte eine signifikante militärische Präsenz in der DDR, mit Truppen und auch mit Atomwaffen.

In den Verhandlungen 1990 zwischen den USA und der Sowjetunion ging es um die ehemalige DDR und das wiedervereinigte Deutschland. Es war nicht klar, wie die Wiedervereinigung stattfinden soll. Es war an sich nicht einmal klar, ob es eine Wiedervereinigung überhaupt geben könnte. Die Sowjetunion hätte die Wiedervereinigung schlimmstenfalls nicht anerkennen und einen Krieg mit dem Westen in Kauf nehmen können. Alle Parteien wollten aber glücklicherweise eine diplomatische Lösung. Es kam zu Verhandlungen.
Im Zuge der Verhandlungen machte der amerikanische Aussenminister James Baker in einer Sitzung vom 9. Mai 1990 die Bemerkung, die NATO werde sich nicht nach Osten ausdehnen. Aber der Osten, der gemeint ist, ist die ehemalige DDR. Das sowjetische Transkript des Treffens zitiert Baker folgendermassen:
[W]e understand that it would be important not only for the USSR but also for other European countries to have a guarantee that if the United States maintains its military presence in Germany within the NATO framework, there will be no extension of NATO’s jurisdiction or military presence one inch to the East.
In den Verhandlungen wurde diskutiert, was der militärische Status der DDR sein soll. Es gab im Wesentlichen drei Optionen. Entweder bleibt Ostdeutschland im Warschauer Pakt. Oder das wiedervereinigte Deutschland ist weder im Warschauer Pakt noch in der NATO. Oder aber: Das wiedervereinigte Deutschland bleibt NATO-Mitglied, aber für Ostdeutschland gelten besondere Regeln.
Im obigen Zitat von Baker, das auch Daniele Ganser aufgreift, geht es klar und unmissverständlich um das dritte Szenario und den Geltungsbereich der NATO innerhalb eines wiedervereinigten Deutschlands. In den Gesprächen ging es nie um die Aufnahme osteuropäischer Länder oder sowjetischer Teilrepubliken in die NATO. Diese Tatsache ist historisch absolut unumstritten. Alle zeitgenössischen Quellen — US-amerikanische, westdeutsche und sowjetische Transkripte und Dokumentationen — sind diesbezüglich in klarer Übereinstimmung.
Die Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung mündeten im Zwei-plus-Vier-Vertrag, der am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet wurde. Darin wurde festgehalten, dass die Sowjetunion bis 1994 alle Truppen aus der ehemaligen DDR abziehen würde. Bis dann würden keine anderen ausländischen Truppen in der ehemaligen DDR stationiert und nur deutsche Truppen, die explizit nicht der NATO zugewiesen sind. Nach 1994, so der Plan, dürften NATO-Truppen in Ostdeutschland stationiert werden, aber ausschliesslich deutsche.
Die historische Tatsache, dass es 1990 kein Versprechen bezüglich der NATO-Aufnahme osteuropäischer Staaten gab, ist letztlich sehr offensichtlich. 1990 existierten die Sowjetunion und der Warschauer Pakt noch. Warum sollte Gorbatschow mit den USA darüber diskutieren, ob sowjetische Teilrepubliken oder Länder wie Polen in die NATO aufgenommen werden sollen? Die Ganser’sche Deutung ist bei genauerer Betrachtung nicht nur 100% falsch — sie ist absurd.
So sieht es auch Michail Gorbatschow. In einem ZDF-Interview im Jahr 2014 wurde er gefragt, was es mit dem angeblichen amerikanischen Versprechen bezüglich NATO-Osterweiterung auf sich habe. Seine Antwort: Nichts. Es ist ein Mythos.
Ein Mythos, der heute zu den wohl erfolgreichsten Desinformations-Taktiken des Kreml gehört. Es ist zwar sehr einfach, den Mythos zu entkräften — eine 10-minütige Recherche genügt, um die tatsächlichen Fakten zu den Verhandlungen 1990 ausfindig zu machen. Aber wie es so schön heisst: “Never let the truth get in the way of a good story”. Lass Fakten nie eine gute Geschichte stören.
Es gibt aber tatsächlich ein Versprechen, das in den 1990er Jahren gemacht und das anschliessend sehr deutlich gebrochen wurde. Es ist aber nicht ein Versprechen der USA gegenüber der Sowjetunion. Es ist ein Versprechen Russlands gegenüber der Ukraine.
Das Versprechen, das es *tatsächlich* gab: Das Budapester Memorandum
Nach dem Zerfall der Sowjetunion fand im Dezember 1994 in Budapest eine Tagung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa statt. Im Rahmen der Konferenz wurden drei Vereinbarungen mit Belarus, Kasachstan und der Ukraine getroffen. Im Gegenzug dafür, dass diese drei neuerdings unabhängigen Staaten dem Atomwaffensperrvertrag beitraten und all ihre sowjetischen Atomwaffen abgaben, erhielten sie von Russland, den USA und dem Vereinigten Königreich Sicherheitsgarantien.

Konkret verpflichteten sich die USA, das Vereinigte Königreich und Russland mit dem Vertrag, die politische Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine im Rahmen der Landesgrenzen von 1994 zu respektieren. Das Budapester Memorandum als multilaterale Vereinbarung sieht ausdrücklich vor, dass die Ukraine von den USA, vom Vereinigten Königreich und von Russland nicht militärisch angegriffen werden darf.
Mit dem Krieg gegen die Ukraine, der 2014 begann, verstiess Putin auf gröbste Weise gegen das Budapester Memorandum. Die Sicherheitsgarantien, die Russland 1994 im Rahmen eines bis heute völkerrechtlich bindenden Vertrages an die Ukraine gab, wurden durch Wladimir Putins Regierung eindeutig und unmissverständlich verletzt.
Realitätsverlust und Informationskollaps
Die tatsächliche Geschichte der Versprechen bezüglich der Ukraine ist also das diametrale Gegenteil von jener, die gemeinhin kolportiert wird. Es gab nie ein Versprechen gegenüber oder gar einen Vertrag mit Russland, dass die NATO keine osteuropäischen Länder aufnehmen werde. Die Verhandlungen 1990 und der daraus resultierende Zwei-plus-Vier-Vertrag betrafen die deutsche Wiedervereinigung zu einem Zeitpunkt, an dem die Sowjetunion und der Warschauer Pakt noch existierten.
Das sicherheitspolitische Versprechen, das bezüglich Ukraine tatsächlich abgegeben wurde, ist das Budapester Memorandum von 1994. Russland verpflichtete sich vertraglich, die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine zu respektieren. Das waren international bindende Sicherheitsgarantien an die Ukraine, die als damals drittgrösste Nuklearmacht einwilligte, alle Atomwaffen an Russland abzugeben.
Der Mythos des angeblichen Verrates des Westens an Russland ist Humbug. Die einzige Person, die Wortbruch beging, ist Wladimir Putin.
Warum halten so viele Menschen an der komplett falschen Darstellung der NATO-Osterweiterung fest? Es ist teilweise einfach direkte Propaganda des Kreml, die über die üblichen Kanäle (RT, Bots auf Social Media, oder Putin höchstpersönlich). Diese Propaganda würde aber ohne nützliche Idioten, die die Propaganda aus aufrichtiger Überzeugung weiter streuen, nicht funktionieren.
Leute wie Daniele Ganser werden nicht vom Kreml bezahlt und glauben aufrichtig, was sie sagen. Sie sind aber in ihrem ideologischen Eifer gefangen und für rationale Argumente nicht mehr zugänglich. Sie haben ein einfaches Deutungsmuster, das ihnen die Welt umfassend erklärt und das sie nie mehr loslassen werden, weil sie schon so viel Energie dafür investiert haben: Die USA sind schlecht. Das macht sie empfänglich für hanebüchene Propaganda, weil die Propaganda das, was sie glauben wollen, bestätigt. Ich will es glauben, es fühlt sich gut an, also muss es wahr sein.
Bei prominenten nützlichen Idioten wie Daniele Ganser kommt zusätzlich die Dynamik der “Audience Capture” hinzu. Ganser hat sich über die Jahre ein grosses Publikum aufgebaut, das dieselbe irrationale Brille wie er trägt. Er hat gar keine andere Wahl, als immer mehr vom Gleichen von sich zu geben. Würde er zugeben, dass er sich getäuscht hat und russischer Desinformation aufgesessen ist, würde er damit einen grossen Teil seines Publikums verlieren.
Der Umstand, dass elementare und historisch unumstrittene Fakten zur Ukraine und der NATO ein derart absurdes propagandistisches Eigenleben entwickeln konnten, ist eine Folge des Informationskollapses. Es gibt keine öffentliche Debatte mehr als ehrliche Suche nach dem besseren Argument. Es gibt nur noch eine öffentliche Debatte als brutalisierten Wettbewerb um die schrillsten, krassesten, simpelsten Meinungen. Die Propaganda des Kreml setzt sich nicht durch, obwohl sie dumm und realitätsfern ist. Sie setzt sich durch, weil sie dumm und realitätsfern ist. Wir leben in einer goldenen Symbiose zwischen skrupelloser Propaganda und übereifrigen nützlichen Idioten, die nicht wissen, was sie tun (oder ihr Bestes tun, um es zu verdrängen).
Wieder so ein MK-Artikel, der einer gängigen Erzählung den Todesstoss gibt.
Das ist jetzt zwar für mich alles nicht neu, aber mal eine schöne Bestätigung, dass es noch Menschen gibt, die sich an die Fakten halten anstatt - wie Daniele Ganser, seine ewigen Vorurteile gegenüber den USA weiter zu zementieren. Man könnte noch erwähnen, dass es ein Interview mit Putin gab, das bis Ausbruch des Krieges sogar auf der Kreml-Website heruntergeladen werden konnte (auch auf Englisch). In diesem Interview überlässt er ausdrücklich der Ukraine den Entscheid eines NATO-Beitritts. Mit etwas Recherche-Aufwand könnte man das sicher noch finden, auf der Kreml-Website ist es dann kurze Zeit nach Kriegsbeginn gelöscht worden. Dann könnte man auch noch erwähnen, dass Schweden und Finnland neu NATO-Mitglieder sind, der Aufschrei Putins aber ausblieb. Es geht also ganz offensichtlich nicht um die NATO (man hätte ja bezüglich NATO-Beitritt der Ukraine Vorbehalte ins Budapester Memorandum schreiben können, das wäre von den übrigens Staaten wohl ohne weiteres akzeptiert worden). Danke an Marko Kovic für seine stets konzis und gut fundierten Artikel.