Die Pandemie hat nichts verändert
Kein Grundeinkommen, kein Abbau von Ungleichheit, keine besseren Lebenschancen: Die Pandemie hat nicht Fortschritt gebracht, sondern den Status Quo zementiert.
I want to thank every Amazon employee and every Amazon customer, because you guys paid for all this.
Mit diesen Worten hat sich Jeff Bezos, der Gründer des Amazon-Imperiums, nach seinem kurzen Ausflug ins Weltall am 20. Juli 2021 bei den Kund:innen und Mitarbeitenden von Amazon bedankt: Diese hätten seinen Weltraum-Trip bezahlt1.
Ein kruder Kommentar eines weltfremden Superreichen? Nicht ganz. Bezos hat sich zwar unglücklich verplappert, aber er hat grundsätzlich recht: Sein fast unvorstellbar grosses Vermögen von über 200 Milliarden US-Dollar (Stand Juli 2021), mit dem er seine bisher erfolglose2 Weltraum-Firma Blue Origin finanziert, hat Bezos tatsächlich den Arbeiterinnen und Arbeitern von Amazon zu verdanken. Also jenen Menschen, die in ihrem Job so sehr unter Druck stehen, dass sie in Flaschen pinkeln und in Tüten kacken, weil sie keine Zeit für Pausen haben3. Den Menschen, die bei Amazon derart viel Stress erleben, dass sie ausbrennen und den Job kündigen — und zwar so schnell und so systematisch, dass Amazon mit dem Einstellen neuer Arbeiter:innen kaum nachkommt4.
Bezos’ kurioses Weltraum-Abenteure ist für sich genommen bereits ein trauriges Sinnbild für die Probleme unserer spätkapitalistischen, von massiver Ungleichheit geprägten Realität. Zusätzlich bizarr und perfide an dieser Episode ist aber, dass sie vor dem Hintergrund der Coronavirus-Pandemie stattfindet: Bezos’ Vermögen ist in der Pandemie um über 70 Milliarden Dollar gewachsen5, während die Amazon-Mitarbeitenden in prekären Verhältnissen schuften mussten und von Amazon aktiv drangsaliert und diffamiert wurden, wenn sie besseren Schutz vor Covid-19 forderten6.
Die Eskapaden des Jeff Bezos sind symptomatisch für die breitere gesellschaftliche Entwicklung während der Pandemie. Oder besser gesagt: Für das Ausbleiben von Veränderung. Die Reichen und Vermögenden bleiben in der Krise reich und vermögend, oder werden tendenziell sogar noch reicher und noch vermögender. Jene, die am wenigsten haben, trifft die Krise hingegen am stärksten. In den USA7, in der Schweiz8 in Deutschland9 — weltweit10.
Die Pandemie hätte ein Moment des positiven gesellschaftlichen Umbruchs werden können. Stattdessen wurde der Status Quo zementiert.
Die Revolution bleibt aus
Zu Beginn der Pandemie hegte ich die Hoffnung, dass die Pandemie eine Art positiver Schock sein könnte11. Dass die Krise offen legt und eine Debatte darüber auslöst, was in unserer gegenwärtigen Gesellschaftsordnung grundlegend schief läuft. Millionen von Menschen leben in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen und befinden sich auch in “guten” Zeiten nahe am materiellen Ruin. Wenn es hart auf hart kommt, leiden diese Menschen am meisten — obwohl gerade die Arbeit dieser materiell benachteiligten Schicht sicherstellt, dass wir als Gesellschaft überhaupt funktionieren können. Ohne all die Arbeiter:innen, die sich um die Kranken und Gebrechlichen kümmern, die die Strassen sauber halten, die dafür sorgen, dass unser Kehricht entsorgt wird, die unsere Wasserrohre und Stromleitungen verlegen, die sicherstellen, dass die Regale in Supermärkten auch in hektischen Zeiten gefüllt werden, würde unsere Zivilisation innerhalb kürzester Zeit wie ein Kartenhaus zusammenfallen.
Zu Beginn der Pandemie gab es denn auch positive Zeichen, dass wir uns kollektiv solidarisieren und ein Bewusstsein für all jene Menschen, die viel leisten, im Gegenzug aber wenig erhalten, entwickeln. Auf der ganzen Welt applaudierten wir enthusiastisch und hochachtungsvoll dem Gesundheitspersonal, das in der Pandemie Kopf und Kragen riskierte, um die Covid-bedingte Welle an Krankheit, Leid und Tod abzufedern. Doch diese schöne symbolische Geste war nicht der Beginn eines tiefgreifenden Wandels. Sie war nur ein flüchtiger Moment des Zusammenhalts, der schon bald verflog.
Die Pandemie wäre der ideale Moment für eine breite Bewegung gewesen. Eine Bewegung, die sich für mehr materielle Gleichheit und ein neues Gesellschaftsmodell einsetzt — dafür, dass möglichst viele Menschen ein möglichst würdiges, lebenswertes Leben leben können. Eine solche Bewegung gab es nicht. Stattdessen formierte sich eine Bewegung der Corona-“Querdenker:innen”, die aktiv gegen die Eindämmung der Pandemie kämpften, um möglichst bald wieder zum Status Quo Ante, zum Zustand vor der Pandemie, zurückzukehren. Diese fast tragisch fehlgeleitete Bewegung wurde zumindest in Teilen durch gezielte und geschickte Propaganda “wirtschaftsnaher” Kreise befeuert. Neoliberale Think Tanks belehrten uns schon kurz nach Ausbruch der Pandemie, dass das beste Vorgehen ein empathieloses Nichtstun ist, der “Wirtschaft” (also den bestehenden grosskapitalistischen Machtverhältnissen) zuliebe12. So mahnte die Konrad-Adenauer-Stiftung bereits im April 2020 in einem Papier13, die Politik müsse “ungerechtfertigte Globalisierungs- und Kapitalismuskritik widerlegen” — wehe, wir wagen es, am Status Quo zu rütteln!
Schocks alleine bringen keinen Fortschritt
In ihrem Ausbleiben von Konsequenzen ist die Corona-Pandemie eine fast eine Art Wiederholung der globalen Finanzkrise von 2007/2008. Auch damals ging ein soziales Erdbeben um die Welt, das das Potenzial für nachhaltigen Wandel hätte haben können. Die “Occupy Wall Street”-Bewegung, die als Antwort auf die Finanzkrise entstand, setzte sich zwar für mehr materielle Gleichheit ein. Viel mehr als ein kurzlebiges Medienspektakel resultierte aus den Protesten aber nicht. Die Protestcamps von damals sind die Klatschrunden von heute.
Krisen und Schocks wären rein theoretisch eigentlich Momente, in denen sich der gesellschaftliche Diskurs ausweitet und wir über Ideen und Visionen sprechen, die in “Normalzeiten” als zu weit hergeholt, als zu träumerisch gelten. Doch in der jüngeren Geschichte scheint das nicht zu funktionieren. Krisen und Schocks verfestigen bestehende Machtverhältnisse, anstatt sie aufzuweichen. Warum?
Das Problem dürfte eine Art gesellschaftliche Pfadabhängigkeit sein. Je länger die bestehenden sozio-ökonomischen Strukturen Bestand haben, desto stärker verfestigen sie sich, weil die ungleiche Verteilung ökonomischer und politischer Macht immer ausgeprägter wird. Das bedeutet in der Konsequenz, dass tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel umso schwieriger wird, je länger er ausbleibt. Es ist, bildlich gesprochen, wie mit Beton: Frisch gegossenen Beton können wir noch einfach formen und verändern. Je länger wir aber zuwarten, desto schwieriger wird es, etwas zu ändern, weil der Beton immer fester wird.
Das bedeutet aber nicht, dass wir kapitulieren müssen. Im Gegenteil: Gerade weil wir nicht damit rechnen können, dass Krisen automatisch zu positivem Wandel führen, müssen wir uns aktiv und explizit anstrengen, um Wandel herbeizuführen. Verhärtete gesellschaftliche Strukturen mit fortschrittlichen Gedanken und Ideen aufzubrechen, kostet enorm viel Energie. Aber ein positiver Wandel ist nach wie vor möglich, denn die Strukturen, die uns auf den ersten Blick vielleicht unüberwindbar scheinen, sind letztlich auch nur menschengemacht. Und was Menschen erschaffen haben, können Menschen auch wieder verändern.
Morse, Jack. “Jeff Bezos Said the Quiet Part out Loud: ‘You Guys Paid for All This.’” Mashable, July 20, 2021. https://mashable.com/article/jeff-bezos-blue-origin-amazon-customers-paid-for-flight.
Berger, Eric. “Despite Tuesday’s Flight, Jeff Bezos Is Running out of Time to Save Blue Origin.” Ars Technica, July 21, 2021. https://arstechnica.com/science/2021/07/despite-tuesdays-fight-jeff-bezos-is-running-out-of-time-to-save-blue-origin/.
Klippenstein, Ken. “Documents Show Amazon Is Aware Drivers Pee in Bottles and Even Defecate En Route, Despite Company Denial.” The Intercept (blog), March 25, 2021. https://theintercept.com/2021/03/25/amazon-drivers-pee-bottles-union/.
Kantor, Jodi, Karen Weise, and Grace Ashford. “The Amazon That Customers Don’t See.” The New York Times, June 15, 2021, sec. U.S. https://www.nytimes.com/interactive/2021/06/15/us/amazon-workers.html.
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Greenhouse, Steven. “Amazon Fired Him – Now He’s Trying to Unionize 5,000 Workers in New York.” the Guardian, June 4, 2021. http://www.theguardian.com/technology/2021/jun/04/amazon-workers-staten-island-christian-smalls.
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