Es ist OK, wenn Junge wegen Corona nicht Party machen können
In moralphilosophischer Hinsicht ist die Minimierung von Leid wichtiger als die Maximierung von Glück.
Die Kurzgeschichte The Ones Who Walk Away from Omelas1 ist ein ungemein wichtiges und zugängliches moralphilosophisches Gedankenexperiment, das viel mehr Menschen kennen sollten. Zusammengefasst und paraphrasiert ist die Geschichte folgende:
In der wunderschönen Stadt Omelas leben 1’000 Menschen. 999 von ihnen leben ein fast unvorstellbar glückerfülltes Leben: Sie sind nie krank, sie haben alle materiellen Bedürfnisse mehr als gedeckt — Essen, Trinken, Obdach — , sie geniessen Kunst, Sport, Philosophie, und sie leben ihr Leben selbstbestimmt so, wie sie es wünschen. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Omelas leben in paradiesischen Zuständen.
Bis auf die eine Person, die nicht zu den 999 Glücklichen gehört. Diese eine Person ist in einem Kerker eingesperrt und wird tagein, tagaus brutalst gefoltert. Denn das ist der Deal von Omelas: Indem eine Person ununterbrochen Höllenqualen leidet, können 999 Personen in schier ekstatischem Glück leben.
Sind 999 maximal glückliche Leben für den Preis eines einzigen sehr leidvollen Lebens ein guter Deal? Rein egoistisch vielleicht schon, wenn man zu den privilegierten 999 Bewohner*innen von Omelas gehört. Aber moralisch gesehen ist an der Sache etwas faul. Ja, das Glück der 999 Glücklichen ist gigantisch, geradezu paradiesisch, aber ist darum das Leid der einen Person im Kerker hinnehmbar? Oder anders formuliert: Ist das Ausmass an Glück der 999 perfekt glücklichen Personen in moralischer Hinsicht wichtiger als das Ausmass an Leid der einen leiderfüllten Person im Kerker? Die Rechnung geht irgendwie nicht ganz auf. Das Glück der 999 Glücklichen ist für sich genommen sicher wertvoll, aber die Höllenqualen der einen gefolterten Person überschatten das Glück der Vielen. In der Kurzgeschichte kommen auch einige Bewohner*innen von Omelas zu diesem Schluss und verlassen freiwillig ihr Paradies auf Erden.
Das Omelas-Gedankenexperiment greift eine der wichtigsten moralphilosophischen Debatten der Neuzeit auf: Die Frage, ob es zwischen Glück und Leid eine Asymmetrie gibt. Beim klassischen Utilitarismus, zu dessen frühen Verfechtern die einflussreichen Philosophen Jeremy Bentham2 und John Stuart Mill3 gehören, steht die Maximierung von Glück im Vordergrund: Eine Handlung ist dann moralisch richtig, wenn sie das Glück möglichst vieler empfindungsfähiger Wesen möglichst stark steigert.
Gegen diese Maxime erhebt der, grob gesprochen, negative Utilitarismus einen Einwand: Glücksmaximierung ist ceteris paribus zwar moralisch wünschenswert, aber die Reduktion von Leid ist höher zu gewichten als das Steigern von Glück, weil weniger Leid die Welt deutlich besser macht als mehr Glück. Wenn wir zum Beispiel die Wahl hätten, 1’000 krebskranke Menschen von Krebs zu heilen oder stattdessen 1’000 zusätzliche Menschen zu erschaffen, die gesund sind, wäre es geradezu psychopathisch, die krebskranken Menschen weiter leiden zu lassen. Diese Asymmetrie zwischen Glück und Leid ist nicht nur eine schwer von der Hand zu weisende moralische Intuition, sondern auch die Realität menschlicher psychologischer Erfahrungen von Glück und Leid4: Ein Trauma, ein Unfall, ein blöder Zufall kann unser glückliches Leben zur Hölle auf Erden machen. Eine ausgezeichnete Zusammenstellung der Argumente, warum Leid moralisch schwerer zu gewichten ist als Glück, findet sich in Magnus Vindings Standardwerk Suffering-Focused Ethics: Defense and Implications5.
Die Abwägung von Glücksmaximierung und Leidreduktion ist nicht nur eine philosophische Gedankenspielerei, sondern nicht zuletzt in der Coronavirus-Pandemie knallharte Realität. So findet aktuell eine öffentliche Debatte darüber statt, ob die ganzen Corona-bedingten Einschränkungen für die jüngeren Bevölkerungsschichten wirklich zumutbar sind. Tim Wirth etwa schreibt im Tages-Anzeiger6, dass die Jugend es letztlich verpasse, jung zu sein: Keine Fitnesscenter, keine Parties, keine spontanen Ausflüge, keine Bars — kein Gefühl, das Leben in vollen Zügen geniessen zu können. In der Sendung Echo der Zeit erklären eine Jungpolitikerin und ein Jungpolitiker, wie ihnen die Pandemie-Einschränkungen zu schaffen machen7: Wegen der Pandemie findet das Studium nur online virtuell statt und die bereichernden physischen Treffen mit den Komiliton*innen fehlt; ein länger geplantes Auslandsemester, ein grosses und aufregendes Abenteuer, ist ins Wasser gefallen.
Es ist unbestreitbar, dass solche Corona-bedingten Einschränkungen dem Glück der jüngeren Generationen einen Abbruch tun. Das ist, ceteris paribus, schlecht; wir sollten das Glück der Jungen möglichst rasch wieder zu maximieren versuchen. Aber in dieser Debatte muss auch die asymmetrsiche Kehrseite der Corona-Medaille mitberücksichtigt werden: Die Einschränkungen existieren ja nicht einfach zum Spass, sondern, um Corona-bedingtes Leid zu reduzieren. Das Leid, welches Covid-19 bei schwereren Verläufen verursachen kann, ist bekanntermassen beträchtlich8 9. Hinzu kommt, dass Covid-19 nicht nur qualvolles und massives Leid verursacht, sondern durch Todesfälle weltweit auch Millionen lebenswerter, glückerfüllter Lebensjahre vernichtet10.
Die Frage, die sich in der Debatte zum Lebensglück der Jugend stellt, ist also: Ist der Glücksverlust der Jugend höher zu gewichten als das Leid, das durch diesen Glücksverlust vermieden wird? Der Einfachheit halber können wir sogar davon ausgehen, dass durch Corona-Massnahmen 999 Mal mehr Glück verloren geht als Leid reduziert wird. Für eine Person, der ein schwierigerer Covid-19-Verlauf erspart bleibt, büssen 999 jüngere Menschen einen Teil ihrer Lebensqualität ein. Ist das ein guter Deal?
Ja, das ist er. Denn wenn wir den Deal ablehnen, akzeptieren wir eine grauenhafte Omelas-ähnliche Konstellation: Das Leben von 999 Menschen wird glückerfüllter — auf Kosten einer Person, die durch die Hölle muss.
Wer ernsthaft fordert, wir müssten uns als Gesellschaft auf den Weg nach Omelas machen, hat einen gefährlich kaputten moralischen Kompass.
Benthams Klassiker diesbezüglich ist das Buch An Introduction to the Principles of Morals and Legislation; online z.B. hier.
Baumeister, Roy F., Ellen Bratslavsky, Catrin Finkenauer, and Kathleen D. Vohs. “Bad Is Stronger than Good.” Review of General Psychology 5, no. 4 (December 1, 2001): 323–70. https://doi.org/10.1037/1089-2680.5.4.323
Vinding, Magnus. Suffering-Focused Ethics: Defense and Implications. Ratio Ethica, 2020. https://magnusvinding.files.wordpress.com/2020/05/suffering-focused-ethics.pdf
Wirth, Tim. “Kommentar zu Jugend und Corona – Als würden wir etwas Grosses verpassen: jung zu sein.” Tages-Anzeiger, April 3, 2021. https://www.tagesanzeiger.ch/wir-fuehlen-uns-eingefroren-759980389083.
Hulliger, Simone, and Damian Rast. “Woher diese Wut? St. Galler Jungpolitiker analysieren die Krawallnacht - Echo der Zeit - SRF.” Schweizer Radio und Fernsehen (SRF), April 3, 2021. https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/woher-diese-wut-st-galler-jungpolitiker-analysieren-die-krawallnacht?id=11960867.
Cao, Xuetao. “COVID-19: Immunopathology and Its Implications for Therapy.” Nature Reviews Immunology 20, no. 5 (May 2020): 269–70. https://doi.org/10.1038/s41577-020-0308-3.
Deshmukh, Vishwajit, Rohini Motwani, Ashutosh Kumar, Chiman Kumari, and Khursheed Raza. “Histopathological Observations in COVID-19: A Systematic Review.” Journal of Clinical Pathology 74, no. 2 (February 1, 2021): 76–83. https://doi.org/10.1136/jclinpath-2020-206995.
Pifarré i Arolas, Héctor, Enrique Acosta, Guillem López-Casasnovas, Adeline Lo, Catia Nicodemo, Tim Riffe, and Mikko Myrskylä. “Years of Life Lost to COVID-19 in 81 Countries.” Scientific Reports 11, no. 1 (February 18, 2021): 3504. https://doi.org/10.1038/s41598-021-83040-3.
Tja, Schade, dass die aktuelle Politik viel Leid verursacht.
Aber das ist das Problem mit den Bildungsfernen, unifokale Sicht auf Corona-Fallzahlen und die Weigerung die Realität anzuerkennen, dass das Virus da ist und bleibt.