Schreckgespenst Impfpflicht
Die Covid-Impfpflicht ist, moralphilosophisch gesehen, besser als ihr Ruf.
Die Corona-Pandemie hält die Welt nach wie vor in Atem. Die Delta-Variante wütet weiterhin vor sich hin, die neue Omicron-Variante stellt uns vor neue Ungewissheiten, und die allgemeine epidemiologische Lage hat sich in den letzten Wochen in vielen Ländern drastisch verschlechtert. Zu alledem kommt hinzu, dass eines der wirksamsten Werkzeuge, um die Pandemie in den Griff zu kriegen (oder sie zumindest “endemisch” werden zu lassen) nicht zuletzt im deutschsprachigen Raum zu wenig genutzt wird: Die Covid-Impfungen.
Vor dem Hintergrund tiefer Impfquoten hat die österreichische Regierung die Notbremse gezogen und für Februar 2022 eine allgemein Impfpflicht angekündigt. Gegenwärtig ist zwar noch unklar, ob und wie Österreich tatsächlich eine Impfpflicht einführen wird. Doch die blosse Ankündigung hat zu grossen Protesten in Österreich und zu hitzigen Debatten im Rest der Welt geführt. Ist es moralisch vertretbar, Menschen zu einer Impfung zu verpflichten, welche sie eigentlich bewusst ablehnen, wenn sie die freie Wahl haben?
Unser Bauchgefühl suggeriert, dass eine Impfpflicht irgendwie problematisch ist. Menschen zu einer pharmazeutischen Intervention zu “zwingen”, die sie gar nicht wollen, scheint ein kaum zu rechtfertigender Eingriff in persönliche Freiheiten. Betrachtet man die Frage der Covid-Impfpflicht aber etwas sorgfältiger, zeigt sich, dass es keine überzeugenden moralphilosophischen Argumente gegen die Impfpflicht gibt.
Die Prämissen
Die moralphilosophische Diskussion einer möglichen Impfpflicht basiert auf vier empirischen Prämissen
:Eine Infektionskrankheit stellt eine nicht-triviale Gefahr für das Wohl der Bevölkerung dar;
die verfügbaren Impfungen sind wirksam und sicher;
der erwartete Nutzen einer Impfpflicht für das Wohl der Bevölkerung ist höher als die Alternativen;
der Umgang mit Verstössen oder Ablehnung der Impfpflicht ist verhältnismässig.
Diese ersten drei Punkte erachte ich im Kontext von Covid-19 als gegeben an. Zum vierten Punkt der verhältnismässigen praktischen Umsetzung formuliere ich weiter unten im Abschnitt “Praktische Umsetzung” ein paar Gedanken. Auch dieser Punkt wäre im Rahmen einer Impfpflicht problemlos erfüllbar.
Die moralische Abwägung
Moralphilosophisch stehen sich bei der Frage der Impfpflicht zwei Denkschulen gegenüber: Die deontologische und die utilitaristische Perspektive.
Deontologische moralische Argumente fokussieren auf Pflichten und Rechte. Aus dieser Perspektive sind Handlungen dann moralisch richtig, wenn sie, grob gesprochen, Regeln befolgen, die vorab sorgfältig definiert wurden — und zwar ungeachtet dessen, was für Konsequenzen das Befolgen dieser Regeln hat. Eine wichtige Kategorie von Regeln, die zumeist deontologisch begründet werden, sind Freiheitsrechte: Menschen sollen grundsätzlich frei über sich und ihr Leben entscheiden können. Wenn sie im Rahmen ihrer Freiheitsrechte Entscheidungen treffen, deren Folgen schlecht für sie und andere Menschen sind, ist das, deontologisch gesehen, irrelevant.
Aus dem deontologischen Prinzip der individuellen Freiheit kann eine Ablehnung der Impfpflicht abgeleitet werden. Es mag sein, dass eine Impfpflicht positive Konsequenzen hätte, aber sie ist trotzdem unzulässig, weil damit gegen die individuelle Freiheit, sich nicht impfen zu lassen, verstossen wird. Dieses deontologische Argument entspricht im Wesentlichen unserem moralischen Bauchgefühl bei der Frage der Impfpflicht: Menschen zu etwas, was sie nicht unbedingt wollen, zu bewegen oder gar zu “zwingen”, widerspricht recht eindeutig der Idee der individuellen Freiheit.
Utilitaristische moralische Argumente sind gewissermassen das Gegenstück zur Deontologie. Utilitarismus ist eine Denkschule, die zur Familie des moralischen Konsequenzialismus gehört. Bei konsequenzialistischen moralphilosophischen Betrachtungen steht die Frage der Konsequenzen, also der Folgen von Handlungen im Fokus. Eine Handlung ist demgemäss dann moralisch richtig, wenn sie moralisch wünschenswerte Folgen zeitigt. Im Rahmen des Utilitarismus ist die Konsequenz, die moralisch erwünscht ist, die Maximierung von Glück und Wohlbefinden — bzw., in der Denkschule des negativen Utilitarismus, die Reduktion von Leid.
Utilitaristisch gesehen sprechen mindestens drei Gründe für eine Impfpflicht. Erstens bedeutet eine Impfpflicht eine individuelle Reduktion von Leid (bzw. eine Reduktion des individuellen Risikos, vermeidbares Leid zu erfahren). Die Logik hierbei ist ganz ähnlich wie beispielsweise bei der Sicherheitsgurt-Pflicht in Autos, die auch einen Eingriff in individuelle Freiheit zugunsten individueller Leidreduktion darstellt
. Zweitens bedeutet eine Impfpflicht einen Beitrag zur kollektiven Reduktion von Leid. Dadurch, dass Menschen geimpft sind, sinkt das Risiko für andere Menschen, durch Übertragung der Krankheit vermeidbares Leid zu erfahren. Und drittens bedeutet eine Impfpflicht, dass jene vulnerablen Menschen, die sich nicht impfen lassen können, dank der mit einer Impfpflicht eher erreichbaren Herdenimmunität besser geschützt werden.An dieser Stelle könnte man eine moralische Pattsituation vermuten. Die utilitaristischen Argumente der Leidreduktion sind offenkundig und einleuchtend, aber ist das Prinzip der individuellen Freiheit nicht übergeordnet und unantastbar? Nein, keineswegs — und zwar auch ganz direkt aus deontologisch-freiheitsbetonender Sicht. Warum, hat bereits John Stuart Mill in seinem Klassiker “On Liberty”
von 1859 beschrieben.In seiner nach wie vor brillanten moralphilosophischen Herleitung und Verteidigung von Freiheit führt Mill auch das sogenannte Schadensprinzip ein. Individuelle Freiheit, argumentiert Mill, dürfe — und müsse — eingeschränkt werden, wenn damit Schaden für Drittpersonen abgewendet werden kann. Mit anderen Worten: Die Freiheit von Individuum A endet dort, wo Individuum B durch die Freiheit von Individuum A zu (nicht-trivialem) Schaden kommt. Dieses Prinzip ist für uns mehr oder weniger selbstverständlich; unsere zivilisierte Gesellschaft funktioniert im Grunde nur dank des Schadensprinzips. Wenn ich zum Beispiel auf der Strasse Menschen einfach so auf die Nase haue, weil ich Lust darauf habe, würde niemand mein Handeln ernsthaft mit Verweis auf meine persönliche Freiheit rechtfertigen. Meine Freiheit, Leuten willkürlich eins auf die Nase zu geben, muss moralischerweise eingeschränkt werden, weil ich mit dem Ausüben meiner Freiheit die Freiheit anderer, keinen vermeidbaren Schaden zu erleiden, einschränke.
Freiheitsprinzipien können nie in absoluter Form, sondern nur im Rahmen gemeinschaftlichen Austarierens gemäss dem Schadensprinzip moralisch legitim sein. Freiheit funktioniert nur mit einem guten Schuss Utilitarismus.
Das Schadensprinzip ist denn auch der Grund, warum eine Impfpflicht auch aus deontologischer, freiheitsbetonender Sicht grundsätzlich wünschenswert ist. Die Freiheit, mich nicht impfen zu lassen, verursacht nämlich ganz direkt Schaden für andere Menschen: Indem ich mich nicht impfen lasse, erfahren Drittpersonen vermeidbares Leid (bzw. wird das Risiko, dass Drittpersonen vermeidbarem Leid ausgesetzt werden, erhöht)
. Die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, hat darum aus deontologisch-libertärer Sicht einen ganz ähnlichen moralischen Status wie etwa die Entscheidung, mit einer Knarre zum Spass wild in der Gegend herumzuballern. In beiden Fällen verursacht das grenzenlose Wahrnehmen der individuellen Freiheit nicht-trivialen, vermeidbaren Schaden. Wenn in einem Fall eine generelle Reduktion von Freiheit angebracht ist (durch Geballere Schaden verursachen ist falsch), muss sie es auch in dem anderen Fall sein (durch Nicht-Impfen Schaden verursachen ist falsch).Die Praktische Umsetzung
Die moralphilosophischen Argumente zugunsten einer Impfpflicht scheinen insgesamt recht eindeutig — und zwar auch dann, wenn man in moralischer Hinsicht die individuelle Freiheit als das höchste Gut ansieht. Doch wie würde eine Impfpflicht in der Praxis konkret funktionieren? Ganz einfach: Am ehesten so, wie sie bereits in diversen Ländern und bei diversen Pflichtimpfungen für Kinder gehandhabt wird. Die gemeinhin übliche Praxis ist, dass, wer sein Kind trotz Impfpflicht nicht impfen lässt, eine moderate Busse bezahlt
. Ein solches Prinzip ganz ohne harsche Massnahmen wie Gefängnisstrafen und umfassende Überwachung lässt sich grundsätzlich auch auf eine allgemeine Impfpflicht im Corona-Kontext übertragen.In der Schweiz besteht indirekt bereits ein solcher auf Bussen basierender Ansatz, der zum Impfen bewegen soll. Im Rahmen der Schweizer “3G”-Strategie haben nur geimpfte, genesene oder negativ getestete Personen Zugang zu gewissen Orten des öffentlichen Lebens. Bei dieser 3G-Handhabung besteht der indirekte Bussen-Mechanismus darin, dass die Covid-Impfung kostenlos ist, Covid-Tests hingegen privat bezahlt werden müssen. Dieser finanzielle Anreiz zum Impfen liesse sich mehr oder weniger 1:1 in eine Impfpflicht übertragen. Personen, die sich nicht impfen lassen, würden einfach in einem ähnlichen Ausmass finanziell bestraft wie sie es aktuell indirekt in der 3G-Lösung werden.
Was ist der Weg vorwärts?
Für die allfällige praktische Einführung einer Covid-Impfpflicht gibt es zwei wesentliche Hürden: Eine politische und eine rechtliche.
In politischer Hinsicht orientieren sich Regierung und Parlament nach der Stimmung in der breiten Bevölkerung. In Österreich hat sich lauter Widerstand gegen die Impfpflicht formiert, und es ist zu erwarten, dass die Reaktionen in anderen Ländern ähnlich heftig ausfallen würden. Zwar sind es zumindest in Österreich
, Deutschland und der Schweiz nur Minderheiten, die die Impfpflicht ablehnen, aber es sind lautstarke und den Konflikt nicht scheuende Minderheiten, teilweise mit Unterstützung etablierter politischer Parteien. Regierungen und Parlamente könnten entsprechend von Impfpflichten absehen, um sich an ihnen nicht die politischen Finger zu verbrennen, oder, weil sich keine politischen Mehrheiten finden, um sie durchzusetzen.In rechtlicher Hinsicht muss geklärt werden, ob die rechtlichen Grundlagen für eine allgemeine Impfpflicht überhaupt gegeben sind. In der Schweiz beispielsweise befugt das sogenannte Epidemiengestz
die Regierung zwar, Impfungen bei “gefährdeten Bevölkerungsgruppen, bei besonders exponierten Personen und bei Personen, die bestimmte Tätigkeiten ausüben” für obligatorisch zu erklären. Eine allgemeine Impfpflicht lässt sich aus dem Gesetz aber nicht ableiten.Die praktischen Hürden für die Einführung einer allgemeinen Covid-Impfpflicht dürften zumindest in den deutschsprachigen Ländern also hoch sein. Eine Debatte über den moralischen Status einer hypothetischen Impfpflicht ist aber trotzdem richtig und wichtig. Nicht zuletzt, weil dadurch die allgemeine Sensibilisierung für die moralische Notwendigkeit der Covid-Impfung steigen kann. Je mehr Menschen realisieren, dass und warum eine Impfpflicht moralisch richtig wäre, desto mehr Menschen kommen hoffentlich zum Schluss, dass sie sich auch ohne Impfpflicht aus guten Gründen impfen lassen sollten.
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Unabhängig von der Realisierbarkeit wäre also auch in beiden Schulen ein Impfzwang gerechtfertigt, wenn zum Beispiel die Impfpflicht nicht das Ziel erreicht?