Gain-of-Function-Forschung: Eine schlechte Wette
Krankheitserreger absichtlich gefährlicher zu machen, kann nur schiefgehen.
Im Zuge der Covid-Pandemie wurde und wird viel über den Ursprung des Virus Sars-Cov-2 spekuliert. Könnte es sein, dass das Virus aus einem Labor entwichen ist? Könnte es sogar sein, dass Sars-Cov-2 nicht natürlich entstanden, sondern bewusst im Labor hergestellt wurde?
Die gute Nachricht: Alles, was wissenschaftlich über Sars-Cov-2 bekannt ist, spricht für einen natürlichen Ursprung des Virus. Sars-Cov-2 stammt so gut wie sicher nicht aus dem Labor1 2.
Die schlechte Nachricht: In Laboren wird grundsätzlich an und mit gefährlichen Viren geforscht, und gefährliche Viren werden zu Forschungszwecken bisweilen bewusst noch gefährlicher gemacht. Dies geschieht im Rahmen der sogenannten Gain-of-Function-Forschung (GOF).
GOF hat nichts mit der Covid-Pandemie zu tun (Sorry, liebe Querdenker*innen). Aber GOF ist für sich genommen ein Forschungsbereich, bei dem wir uns die ernste Frage stellen müssen: Sollen wir diese Art der Forschung wirklich betreiben? Ich denke, nein. Die Risiken sind schlicht zu gross.
Der potenzielle Nutzen: Zukünftige Pandemien antizipieren
GOF-Forschung ist Forschung, bei der bestehende Krankheitserreger (meistens Viren, aber auch Bakterien) gentechnisch manipuliert werden, um daraus wissenschaftliche und praktische Erkenntnisse zu gewinnen. Nicht jede Form der GOF-Forschung resultiert in gefährlicheren Viren. Manchmal werden aber gezielt Viren erschaffen, die ansteckender und / oder tödlicher sind. Bei solchen Experimenten ist dann bisweilen die Rede von “GOFROC”: GOF Research of Concern3 (auf Deutsch in etwa “besorgniserregende GOF-Forschung”).
Das vielleicht bekannteste Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit für solche gefährlichere, besorgniserregende GOF-Forschung sind zwei Studien aus dem Jahr 2012. In den Studien haben zwei Forschungsteams das Vogelgrippe-Virus H5N1 so gentechnisch verändert, dass das Virus von Frettchen zu Frettchen über Aerosole übertragbar wurde4 5. Einer der beteiligten Forscher hat erklärt, dass das neu entstandene Virus wohl eines der gefährlichsten Viren überhaupt ist, das man im Labor erschaffen kann6.
Wenn man das so liest, könnte man meinen, dass GOF-Forschung wissenschaftliche Hybris ist — Wissenschaftler*innen, die einfach zu weit gehen. In Tat und Wahrheit wird GOF-Forschung aber natürlich mit guten Absichten durchgeführt. Das Ziel von GOF ist, zu verstehen, was für zukünftige Mutationen in der Natur wahrscheinlich sind. Dadurch wird es potenziell möglich, einzuschätzen, was für Erreger zu einer Gefahr werden könnten. In der Konsequenz könnte uns das einen wertvollen zeitlichen Vorsprung im Kampf gegen Epidemien und Pandemien verschaffen: Indem wir frühzeitig einschätzen können, was für Erreger zum Problem werden, können wir entsprechend frühzeitig mit der Entwicklung von Impfstoffen beginnen. Wenn das Schlimmste eintritt, sind wir gewappnet.
Der Nutzen von GOF ist damit potenziell sehr gross. Aber “potenziell” ist hier das zentrale Stichwort: Bisher hat die gefährlichere Form von GOF-Forschung keinen relevanten praktischen Nutzen generiert, und Fachleute sind sich einig, dass der praktische Nutzen von GOF ganz grundsätzlich nach wie vor hypothetischer Natur ist7.
Hieraus ergibt sich ein Problem. GOF-Forschung könnte durchaus sehr nützlich sein, aber GOF-Forschung ist auch mit Risiken verbunden. Und das Ausmass der Risiken übersteigt den potenziellen Nutzen, denke ich, klar.
Das Risiko: Eine garantierte Katastrophe
Gefährlichere GOF-Forschung wird nach bestem Wissen und Gewissen und unter den strengsten Sicherheitsvorkehrungen betrieben. Daran besteht kein Zweifel. Aber auch dann, wenn in Laboren nach den höchsten und modernsten Sicherheitsstandards gearbeitet wird, können Unfälle passieren. Shit happens, wie es so schön heisst.
Und Shit passiert nicht nur hypothetisch. Aus vielen vergangenen Unfällen in Hochsicherheitslaboren wissen wir, dass es auch in den am besten gesicherten und am strengsten überwachten Laboren immer wider zu Unfällen kommt8. Der Grund dafür ist offensichtlich: Überall, wo Menschen am Werk sind, sind Fehler rein statistisch gesehen unvermeidbar. In den allermeisten Fällen haben Fehler in Laboren, in denen an Krankheitserregern gearbeitet wird, nur limitierte Konsequenzen. Wenn es aber um gefährlichere GOF-Forschung geht, steigt das Risiko um Grössenordnungen: Ein kleiner Fehler kann dazu führen, dass neu erschaffene hochansteckende Viren mit Pandemie-Potenzial den Weg aus dem Labor finden und zu einer globalen Katastrophe führen.
Das ist der zentrale Grund, warum gefährliche GOF-Forschung aus Risiko- bzw. aus ethischer Sicht falsch ist9: Ein katastrophaler Unfall ist statistisch gesehen nicht bloss denkbar, sondern mittelfristig unvermeidbar.
Hierauf könnte man entgegnen, dass wir dieses Risiko in Kauf nehmen sollen, weil die Kehrseite der GOF-Medaille ja ist, dass wir gefährliche Epidemien und Pandemien vermeiden können. Aber zwischen Nutzen und Risiko besteht eine Asymmetrie: Der Nutzen von GOF ist hypothetisch, während der katastrophale Schaden statistisch sicher ist. Eine solche Wette sollten wir als Gesellschaft nicht eingehen, denn der Erwartungswert ist deutlich negativ: Wenn wir GOF-Forschung über längere Zeit betreiben, richten wir im Schnitt sehr wahrscheinlich deutlich mehr Schaden an als wir verhindern — und der Schaden, den wir anrichten, dürfte sehr gross ausfallen.
Wir müssen katastrophale und existenzielle Risiken ernst nehmen
Die Covid-Pandemie hat ungemein viel Leid und Tod verursacht — aber wir hatten Glück im Unglück. Mit einer geschätzten Tödlichkeit (Infection Fatality Rate) von 0.15%10 ist Sars-Cov-2 viel weniger tödlich als beispielsweise das Vogelgrippe-Virus H5N1, deren Tödlichkeit im mittleren zweistelligen Bereich von bis zu 30% liegen könnte11. Man stelle sich vor, das über GOF hochansteckend gemachte H5N1-Virus wäre in einem Unfall aus dem Labor entwichen. Das Ergebnis wäre eine ungemein tödliche Pandemie, die nicht nur mehr Schaden als die Covid-Pandemie angerichtet hätte — der Schaden wäre katastrophal und potenziel irreversibel ausgefallen. Nicht nur wären enorm viele Menschen gestorben. Die menschliche Zivilisation als ganze hätte durch so einen tiefgreifenden Schock kollabieren können.
GOF-Forschung ist auf eine andere Art riskant als die meisten anderen menschlichen Unterfangen. Viele Dinge, die wir Menschen machen, können grosses und grossflächiges Leid anrichten. Aber bei GOF geht es um die sprichwörtliche Wurst. Die Gefahr ist nicht nur ein einzelner, begrenzter Schadensfall, sondern eine potenziell unumkehrbare Katastrophe: Eine durch GOF-Forschung verursachte Pandemie könnte nicht nur ungemein viel Leid und Tod verursachen, sondern darüber hinaus zu zivilisatorischem Kollaps oder direkt zum Ende der Menschheit führen. Der gefährlichere Strang der GOF-Forschung fällt damit in die Kategorie existenzieller Risiken12: Risiken, die direkt das Ende der Menschheit oder die permanente Verunmöglichung weiterer positiver Entwicklung der Menschheit bedeuten.
Die Reduktion existenzieller Risiken ist eine der wichtigsten Aufgaben überhaupt. Wir kämpfen gegen Klimawandel, weil Klimawandel uns existenziell bedroht. Wir müssen Atomwaffen abschaffen, weil Atomwaffen uns existenziell bedrohen. Und wir müssen Krankheitserreger erforschen, weil Pandemien uns existenziell bedrohen. GOF ist aus der hehren Absicht, den Kampf gegen Pandemien zu verbessern, entstanden. Das Ergebnis ist aber mehr, nicht weniger Bedrohung durch katastrophale Pandemien.
Der Weg zur Hölle ist manchmal mit guten Absichten gepflastert.
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Bin ich nicht deiner Meinung, aber sie ist durchaus legitim und schoen argumentiert. Ich glaube, dass das Framing richtig ist im Sinne von: Wenn Risiko/Benefit nicht auf die richtige Seite fallen, sollte man es auf keine Fall machen. Das schwierigere, meiner Meinung nach, ist es, dass risk:benefit ratio akkurat einzuschaetzen, vor allem, da Risiko oder Nutzen sich dynamisch veraendern ueber Zeit, und ich glaube nicht, dass unsere Intuition das so klar navigieren kann, vor allem im Vergleich zu Experten. GoF ist auch so ne wishi-washi Bezeichnung die von ePPP (enhancement of potential pandemic pathogens) abgeloest wurde. Also ich wuerde nicht so stark und definitiv gegen GoF oder ePPP rauskommen, vor allem in einer Zeit wo wir mehr natuerliche Pandemien erwarten und vermutlich ePPP virology benoetigen werden, um Schaden zu minimieren. Glaube das risk:benefit ratio schaetzt man besser Projekt fuer Projekt individuel ab, und nicht ueber die ganze Schiene "kein ePPP fuer niemanden weil immer zu riskant". Meine Meinung, freundliche Gruesse auch!