Musst *du* Klimawandel stoppen? Nein.
Wir dürfen systemische Probleme nicht zu individuellem Versagen umdeuten.
Die Philosophin Barbara Bleisch hält in einer Kolumne von Ende September ein wunderbar geschriebenes Plädoyer für unsere individuelle Verantwortung im Kampf gegen den Klimawandel. Klimawandel, so Bleisch, kriegen wir dann und nur dann in den Griff, wenn wir als Individuen endlich beginnen, massvoller zu leben:
Setzen wir uns in unserem Lebensstil nicht bald auf «FdH» [Friss die Hälfte] und beginnen, massvoller zu leben, gehen wir an unserer umfassenden Verfettung zugrunde.
Es ist ein Appell, wie wir ihn mittlerweile gut kennen. Wenn wir Klimawandel stoppen wollen, müssen wir alle unseren Lebensstil überdenken. Machen wir einfach weiter wie bisher, nimmt die Klimakrise ihren gefährlichen Lauf. Wir haben es in der Hand.
Dieser Aufruf klingt fast trivial wahr: Natürlich müssen wir unser Verhalten ändern, denn unser Verhalten hat uns die Suppe überhaupt erst eingebrockt. Die Lösung der Klimakrise liegt entsprechend offensichtlich auf der Hand: Wir als Individuen müssen endlich zur Einsicht kommen und uns anders verhalten. Dann kommt es gut.
Das klingt im Prinzip ja recht einfach. Vielleicht eine Spur zu einfach? Leider ja: Das Narrativ, dass ein wirksamer Kampf gegen Klimawandel beim Individuum ansetzen muss, verdreht die Opfer des Klimawandels zu Täter*innen — und lenkt davon ab, dass Klimawandel ein tief verwurzeltes systemisches Problem ist und nicht einfach die Folge individuellen Fehlverhaltens.
Die Neoliberalisierung der Klima-Debatte
Es stimmt natürlich, dass menschengemachter Klimawandel letztlich die Summe unseres kollektiven Verhaltens ist, und es stimmt auch, dass wir als Individuen einen positiven Einfluss auf das Klima haben können. Ich persönlich verzichte beispielsweise auf tierische Produkte in meiner Ernährung und habe damit, ceteris paribus, einen kleineren ökologischen Fussabdruck als zu meinen Fleisch- und Milchkonsum-Tagen.
Aber mein Konsumverhalten findet nicht im luftleeren Raum statt. Ich und du und wir alle sind eingebettet in gesellschaftliche Strukturen und Systeme, und wir können nur im Rahmen dieser Strukturen und Systeme Entscheidungen treffen. Der springende Punkt hierbei: Als Individuen sitzen wir dabei zwangsläufig am kürzeren Hebel. Ich kann für mich entscheiden, kein Fleisch und keine Milch zu konsumieren — aber ich kann nicht entscheiden, weltweit Subventionen für die Fleisch- und Milchindustrie zu streichen. Ich kann für mich entscheiden, mit öffentlichen Verkehrsmitteln anstatt mit dem Auto zu reisen — aber ich kann nicht grossangelegte Infrastrukturprojekte umsetzen, um den öffentlichen Verkehr zu fördern. Ich kann mir ein Elektro- anstatt ein Verbrennerauto kaufen — aber ich kann nicht an der politischen und wirtschaftlichen Macht internationaler Erdölunternehmen rütteln.
Mit anderen Worten: Ich kann zwar durchaus ein bisschen Symptome bekämpfen — aber an der eigentlichen Ursache des Problems ändert das nichts. Und was ist die Ursache? Es ist, wie die Journalistin Kate Aronoff in ihrem sehr treffend betiteltem Buch “Overheated” argumentiert, unsere überhitzte kapitalistische Gesellschaftsordnung.
Wieder Mal soll also der Kapitalismus schuld sein? Nun ja, ich weiss, es klingt fast ein bisschen abgedroschen, aber Kapitalismus ist nun Mal das wirtschaftspolitische Betriebssystem der Welt. So gut wie jede wirtschaftliche Entscheidung, die wir als Konsument*innen treffen, treffen wir im Rahmen kapitalistisch organisierter wirtschaftlicher Strukturen. Als Individuen können wir dabei lediglich im Rahmen bestehender Strukturen und des bestehenden Systems Entscheidungen treffen, aber das System an sich können wir dadurch, dass wir im Rahmen des Systems Entscheidungen treffen, nicht verändern.
Warum sind wir in der Diskussion rund um Klimawandel so offen für individuellen Tadel und so zurückhaltend bei Systemkritik? Rein psychologisch ist es sicher einfacher, über individuelles Verhalten als über Strukturen und Systeme nachzudenken. Was ich konsumiere, kann ich halbwegs gut verstehen und steuern; übergeordnete wirtschaftspolitische Dynamiken sind weit entfernt von meiner Lebenswelt. Was die “da oben” machen, kann ich als normaler Mensch nicht beeinflussen.
Die Idee, dass Klimawandel ein Problem von und für Individuen ist, ist aber auch eine gezielte und äusserst wirksame Strategie just von denen “da oben”. In einer bemerkenswerten Studie dokumentieren die Wissenschaftshistoriker*innen Geoffrey Supran und Naomi Oreskes, wie der Mega-Erdölkonzern ExxonMobil in den letzten rund 40 Jahren die Idee popularisierte, dass die Verantwortung im Kampf gegen Klimawandel bei uns als Einzelpersonen liegt. Und ExxonMobil ist bei dieser Propaganda bei Weitem nicht der einzige Schuldige: Weltweit haben Grossunternehmen und Industrien erfolgreich das Narrativ “Hey, wir verkaufen ja bloss Sachen!” in die Klima- und Umweltdebatte eingespeist. Frei nach dem neoliberalen Motto: Die Märkte sind halt einfach, was sie sind — die Nachfrage kommt von euch individuellen Konsument*innen. Wir liefern ja nur, was ihr wollt! Wenn euer Konsum Probleme verursacht, müsst ihr euren Konsum anpassen.
Die Debatte zu Klimawandel wird damit doppelt “neoliberalisiert”1. Einerseits geben wir uns dem Wunschdenken hin, dass die idealisierten “Märkte” ganz offen, ganz neutral funktionieren und die wirtschaftspolitische Macht von Grossunternehmen keinen Einfluss auf wirtschaftspolitische Realitäten hätte. Andererseits kitzelt die Neoliberalisierung der Klimadebatte auch unsere längst verinnerlichten neoliberalen Tugenden der individuellen “Freiheit” und “Verantwortung”. Wenn das System funktioniert, muss ich das Problem sein, denn die Märkte liefern ja nur, was ich will. Wenn ich mich zusammenreisse und ein bisschen klimafreundliche Selbstoptimierung betreibe (und gegen andere Leute, die es mir nicht gleichtun, den Mahnfinger erhebe), kommt die Sache schon gut.
Das Spiel, so das neoliberale Klima-Dogma, ist fair und gut. Du musst als Individuum einfach lernen, besser zu spielen. Doch das ist eine Illusion: Wir als Individuen spielen in einem wirtschaftspolitischen Klima-Casino, bei dem immer das Haus gewinnt. Das Spiel ist getürkt. Individuen sind nicht Täter*innen in der Klimakrise, sondern die Opfer.
Weniger Klima-Shaming, mehr Systemkritik
Es ist nicht falsch oder schlecht, klimafreundlicher leben zu wollen. Veganen Eintopf statt Schnitzel, Zug anstatt Flugzeug, und allgemein weniger Zeugs kaufen, das man eh nicht braucht: Alles grundsätzlich schön und gut. Der bisweilen puritanische Fokus auf individuelle klimafreundliche Lebensgestaltung verstellt aber den Blick für die in Tat und Wahrheit systemischen Ursachen von Klimawandel.
Wollen wir in der Klimadebatte vorwärts kommen, müssen wir darum von der neoliberalen Nebelpetarde der individuellen Verantwortung ablassen und wieder mehr über das grosse Ganze reden. Über Interessen, Macht und Einfluss von Grossunternehmen und des Grosskapitals. Über Lobbying und Korruption in der Politik. Über mutige, transformative Visionen und Projekte.
Wir brauchen weniger individuelles Klima-Shaming und mehr übergeordnete Systemkritik.
Neoliberalismus ist das dominante wirtschaftspolitische Paradigma der letzten rund 40 Jahre. Neoliberalismus umfasst einerseits politische Reformen zugunsten des Grosskapitals (Privatisierung, Deregulierung, Steuersenkungen, Abbau des Sozialstaates, Kampf gegen Arbeitnehmer*innen-Interessen). Andererseits geht mit Neoliberalismus auch eine Leitideologie einher, die vermeintliche Tugenden wie persönliche Freiheit und Verantwortung, Wettbewerb und die Unfehlbarkeit von Märkten propagiert. Siehe auch:
Ganti, Tejaswini. “Neoliberalism.” Annual Review of Anthropology 43, no. 1 (2014): 89–104. https://doi.org/10.1146/annurev-anthro-092412-155528.
Danke Marko für diesen Beitrag. Ich sehe das ähnlich! Und so schieben sich die normalen Leute ständig den schwarzen Peter zu... allerdings nützt es uns auch nichts, immer nur das System zu kritisieren. Wir sind ja ein Stück weit auch das System und stützen dies mit unserem Verhalten. Z.B. die letzte Abstimmung über die 1% Kapitalsteuer. Kaum jemanden betrifft das wirklich und trotzdem hat die Mehrheit es abgelehnt... aus Angst und Nichtverstehen. Das Volk ist zu dumm, zu gleichgültig oder zu ängslich um am System etwas zu verändern. Sorry, wenn ich das so hart sage. Aber früher oder später werden die Krisen uns dazu zwingen. Es ist vermutlich wie bei individuellen Krisen. Erst wenn man ganz am Boden liegt, ist man bereit etwas zu verändern. Das ist bei kollektiven Problemen wahrscheinlich noch schlimmer. Also, machen wir uns auf einiges gefasst!
Diese Gedanken kann ich nur unterstützen. Einzig: sie sollen uns nicht davon abhalten, trotzdem und bei jeder Gelegenheit unser Verhalten zu hinterfragen und anzupassen. Lösungen für systemische Probleme werden auf weniger Widerstand stossen, wenn diese auf eine Bereitschaft zur Verhaltensänderung treffen.