Wie Medien die Corona-Radikalisierung vorantreiben
Journalistische Medien haben die Deutungshoheit im Corona-Diskurs einer kleinen, extremistischen Minderheit übergeben.
Es ist Mittwoch, der 15. September. Die erweiterte Covid-Zertifikatspflicht in der Schweiz ist seit zwei Tagen in Kraft.
Am Morgen dieses Mittwochs will ein junger Mann im Innenraum eines Zürcher Cafés einen Kaffee trinken, doch er hat kein Covid-Zertifikat. Der junge Mann weigert sich, das Café zu verlassen. Die Situation eskaliert. Der Kellner sieht sich gezwungen, die Polizei zu rufen. Der junge Mann wird gebüsst — doch er werde, erklärt er, die Busse sowie das Covid-Zertifikat über alle Instanzen anfechten.
Warum ich von diesem kuriosen Ereignis weiss? Weil 20 Minuten, die grösste Zeitung der Schweiz, mit dabei war und daraus eine Story gemacht hat, inklusive Video-Interview.
Der junge Mann in dieser Geschichte ist aber nicht irgendein junger Mann. Der Protagonist der Geschichte ist Nicolas Rimoldi, der radikalisierte Kopf der Organisation “Mass-Voll”, die seit Monaten an Corona-Protesten mitwirkt, Falschinformationen streut und mit demagogischer Rhetorik Wut und Hass sät. Diese Rhetorik kann Rimoldi auch in der Café-Geschichte bei 20 Minuten ungefiltert in die Welt hinausposaunen. Sich als Märtyrer inszenierend erklärt er, er würde gegen die Busse kämpfen, weil man sich dem “Faschismus” des Covid-Zertifikates nicht beugen dürfe. Dieser historisch, philosophisch und moralisch irrsinnige Faschismus-Vergleich bleibt unwidersprochen und erreicht potenziell ein Millionenpublikum.
Dass Medien über aktuelle Ereignisse rund um die Corona-Massnahmen berichten, ist für sich genommen durchaus wünschenswert. Aber wie steht es um diese spezifische Geschichte mit einem Akteur aus dem radikalisierten Kern der Anti-Massnahmen-Bewegung? Ist diese Episode im Café, die Rimoldi ganz offensichtlich mit Absicht provoziert und inszeniert hat, wirklich etwas, worüber es sich journalistisch zu berichten lohnt? Ergibt sich aus dieser Berichterstattung irgendein Mehrwert für die Gesellschaft? Verstehen wir die aktuelle Corona-Situation dadurch besser? Sind wir näher an Lösungen?
Die Antwort auf all diese Fragen ist ein klares Nein. Seine Busse hat Rimoldi unmissverständlich als PR-Stunt inszeniert und 20 Minuten ins Boot geholt. Die Story ist in Tat und Wahrheit gar keine. Sie ist Bullshit; hingekackt, um Aufmerksamkeit zu erhaschen. Ein Pseudo-Event in Reinform.
Warum springt 20 Minuten auf so einen Pseudo-Event auf? Es ist ein klassischer Tauschhandel, der beiden Seiten zum Vorteil gereicht: Ein Extremist erhält eine Bühne für seine Demagogie, und das journalistische Medium bedient damit das eigene Publikum und generiert die heute so begehrten Clicks.
Soweit klingt das Ganze nach einer milden Medienkritik. Medien lechzen nach Konflikten und Skandalen, um beim Publikum Anklang zu finden, und gewiefte Propagandisten wie Rimoldi wissen diese Medienlogiken zu bedienen. Doch diese Dynamik ist im Corona-Kontext erst der Beginn eines weitaus bedenklicheren Problems: Weil Medien die Botschaften extremistischer Corona-Massnahmegegner*innen wiedergeben, übergeben sie ihnen damit die Deutungshoheit im Corona-Diskurs — und treiben dadurch Radikalisierung stärker an, als es die extremistischen Massnahmegegner*innen aus eigener Kraft jemals könnten.
Die Verschiebung des Sagbaren
Seit Monaten berichten journalistische Medien fast täglich über Pseudo-Events und sonstige Aktivitäten extremistischer Corona-Massnahmegegner*innen. Kein Protest zu klein, kein Telegram-Chat zu unbedeutend, um daraus nicht eine Story für die Frontseite zu basteln. Alles, was nach Konflikt riecht und schön schockiert, generiert schliesslich Clicks und bedient das mittlerweile zu Tode gerittene “Die Gesellschaft ist gespalten”-Narrativ. Schaut her, so schlimm ist es! Dass es sich bei den extremistischen Massnahme-Gegner*innen nur um eine kleine Minderheit handelt, die zwar laut schreit, aber für die Einstellungen in der breiten Bevölkerung nicht repräsentativ ist, spielt dabei keine Rolle.
Die permanente journalistische Berieselung mit Geschichten über extremistische Massnahme-Gegner*innen bedeutet, dass die extremistischen, radikalen Inhalte, die Gegenstand der journalistischen Stories sind, eben auch stetig wiederholt werden — und zwar über ein Megafon, das ein Millionenpublikum erreicht. Wenn extremistische Massnahme-Gegner*innen zum Beispiel an einem Corona-Protest skandieren, dass sie als Massnahme- und Impf-Verweiger*innen genauso diskriminiert würden wie die Jüdinnen und Juden im Dritten Reich, erreichen sie mit dieser (historisch absurden und moralisch pietätlosen) Botschaft im Rahmen des Protestes bestenfalls ein paar Hundert Menschen. Indem Medien aber über diese Botschaft am Corona-Protest berichten, vervielfältigen sie die Botschaft und tragen sie an ein potenziell riesiges Publikum. Weil die Welle an Pseudo-Events und sonstigem Bullshit der extremistischen Massnahme-Gegner*innen nicht ablässt, nehmen Medien immer und immer wieder diese Superspreader-Funktion ein.
Die Folge dieser nicht ganz ironiefreien Symbiose der Medien mit extremistischen Massnahme-Gegner*innen (die Gegner*innen hetzen gerne gegen die “Systemmedien” und dergleichen, suchen aber ganz gezielt nach Medienpräsenz) ist eine Verschiebung des politischen Diskursen zugunsten der Massnahme-Gegner*innen. Die extremistische Rhetorik rund um “Diktaktur”, “Faschismus” oder “Apartheid”, gepaart mit einer totalen Ablehnung wissenschaftlicher Evidenz, gilt in der gegenwärtigen politischen Debatte zum Umgang mit Corona nicht mehr als wirr und gefährlich, sondern als so etwas wie eine akzeptable und zu respektierende Position. Und sogenannt “neutrale” Journalist*innen bemühen sich entsprechend, “beide Seiten” in der Debatte aufzuzeigen. Das ist schliesslich nur fair, oder?
Mit ihrer anhaltenden Medienpräsenz haben extremistische Massnahme-Gegner*innen erfolgreich das sogenannte Overton-Fenster des gesellschaftlich Sagbaren zu ihren Gunsten verschoben. Ohne die tatkräftige Unterstützung der Medien hätten sie das nicht geschafft.
Was Medien anders machen müssen
Wie sieht die Lösung für diesen höchst problematischen Schulterschluss zwischen extremistischen Massnahme-Gegner*innen und dem nie endenden journalistischen Hunger nach Konflikt, Emotion und Skandal aus?
Gar nicht über extremistische Massnahme-Gegner*innen zu berichten, wäre wohl nicht zielführend. Diese Teilgruppe der Massnahme-Gegner*innen ist zwar nur eine kleine gesellschaftliche Minderheit mit wissenschaftlich unhaltbaren und moralisch abstrusen Einstellungen. Eine fundierte, kritische journalistische Auseinandersetzung mit dieser Minderheit kann im Prinzip aber durchaus dazu beitragen, die Corona-Radikalisierung in der breiteren masssahme-skeptischen Bewegung zu bremsen. Dazu müssen einfach ein paar einfache Daumenregeln beachtet werden:
Kein Live-Ticker-Journalismus: Die wohl schlimmste Form der Corona-Berichterstattung ist Live-Berichterstattung von Pseudo-Events wie Corona-Protesten. Solche Berichterstattung ist zwangsläufig ungefiltert und unreflektiert, und sie gibt extremistische Botschaften entsprechend direkt an ein grosses Publikum weiter. Zudem vermittelt alarmistisch gehaltene Live-Berichterstattung (rote Banner; dramatische Schlagzeilen; emotionale Bilder) den Eindruck, dass gerade etwas ganz Wichtiges passiert, was man unbedingt mitverfolgen muss.
Analyse, nicht Stenographie: Guter Journalismus zeichnet sich dadurch aus, dass Kontexte, Zusammenhänge, Probleme aufgezeigt werden. Wenn Inhalte einfach kolportiert werden, ist das nicht Journalismus, sondern PR.
False Balance vermeiden: Viele Medien sehen extremistische Corona-Gegner*innen und ihre Behauptungen als einfach eine von zwei Seiten. Der Ausgewogenheit halber müsse man sie darum auch zu Wort kommen lassen. Doch diese Vorstellung mündet in falscher Ausgewogenheit, die Medienschaffende bei anderen Themen ganz selbstverständlich nicht anstreben. Oder brauchen wir doch eine Debatte darüber, ob Sklaverei vielleicht doch ok ist? Ob Vergewaltigung eigentlich ganz in Ordnung ist? Ob die Erde doch eine Scheibe sein könnte?
Debunking und Prebunking korrekt anwenden: Es ist möglich, über faktisch falsche und moralisch verwerfliche Behauptungen zu berichten, ohne, dass diese Behauptungen dadurch auf noch grösseren Anklang stossen. Zum Beispiel, indem in der Berichterstattung vorab erklärt wird, was z.B. die wissenschaftlich gesicherten Daten sind, bevor die Falschinformation präsentiert wird. Doch das benötigt Arbeit und ein Minimum an Fachkompetenz.
Mehr Mut, Bullshit zu ignorieren: Ein wesentlicher Teil journalistischer Arbeit besteht darin, auszuwählen, über welche Aspekte der Welt berichtet werden soll. Journalismus kann nie die ganze Realität abbilden, sondern nur einen kleinen Ausschnitt. Die Daumenregeln, nach denen Medienhäuser bei dieser Auswahl an Inhalten operieren, sind natürlich nicht einfach zu durchbrechen. Nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen: Je mehr Potenzial vorhanden ist, die Leserschaft emotional zu packen und zu schockieren, desto mehr Einnahmen werden generiert. Aber es wäre trotzdem wünschenswert, würden Newsrooms und individuelle Journalist*innen mehr Mut haben, die nie endenden Corona-Kapriolen der extremistischen Massnahme-Gegner*innen ab und zu einfach zu ignorieren. Nur schon des Berufsethos’ wegen: Wenn Journalist*innen bei jedem Corona-Pseudo-Event-Bullshit mitmachen, sind sie nicht kritische Beobachter*innen des Zeitgeschehens, sondern schlicht nützliche Idioten für die Sache der extremistischen Massnahme-Gegner*innen.
Vielen Dank! Sie bringen so wichtige Gedanken auf den Punkt! Und eigentlich wissen und können die Medien das doch auch. Beim Thema Selbstmord von Jugendlichen hält sich ja auch die Mehrheit der Medien an die bestehenden Regeln, damit es keinen Werther-Effekt gibt. Keine Ahnung warum dieses Wissen nicht bei allen Themen respektiert wird.
gut, wird dies thematisiert. Man kann es nicht oft genug wiederholen.